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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Bei Bodenstedt geniert mich z. B., daß ich oft unvorbereitet plötzlich p1b_535.002
an lauter männliche Reime anstoße, nachdem ich vorher durch eine Reihe weiblicher p1b_535.003
weicher gestimmt worden war. Ganz männlich oder ganz weiblich mochte p1b_535.004
ich nicht reimen, weil ersteres auf die Dauer entsetzlich hölzern, letzteres zu p1b_535.005
gefühlvoll und daher für starke Stellen nicht passend, Beides aber durchgeführt p1b_535.006
zu monoton ist. Jch wechselte also ab, wählte aber die Schlußzeilen weiblich, p1b_535.007
um das Sonett hübsch ausklingen zu lassen. Sind nicht gerade diese Schlußzeilen, p1b_535.008
die sich oft zu Sinnsprüchen gipfeln, eine Feinheit des englischen Sonetts, p1b_535.009
der nichts im Romanischen gleichkommt? Da schlängelt sich der Schlußgedanke p1b_535.010
immer durch mühsame Reimklippen hindurch, und die Prägnanz des Sinnspruches p1b_535.011
ist kaum möglich" u. s. w. Jch bemerke in Bezug auf die gekreuzten Reime p1b_535.012
des englischen Sonetts, daß selbst Petrarka für die alternierenden Reime p1b_535.013
(a b a b) unsere beliebte, die beiden Glieder jedenfalls viel anschaulicher bezeichnende p1b_535.014
Form des umarmenden Reims (a b b a) gewählt hat.

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Geschichtliches über das Sonett.

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5. Das Sonett entstammte der provencalischen Poesie und wurde im p1b_535.017
13. Jahrhundert nach Jtalien verpflanzt, wo es zuerst Fra Guittone aus Arezzo p1b_535.018
(+ 1295) anwandte, und wo ihm sodann Petrarka (+ 1304) die höchste Vollendung p1b_535.019
verlieh. Dieser schrieb nicht weniger als 2400 Sonette, in denen er p1b_535.020
Lauras Schönheit pries. Seine Sonette sind so sehr Gefühl, daß wir aus p1b_535.021
sämtlichen Sonetten kaum mehr erfahren, als daß Lauras Haare blond und p1b_535.022
ihre Hände weiß und fein waren. Jn Jtalien bildeten sich mehrere Formen p1b_535.023
des Sonetts aus, z. B. a. das anakreontische Sonett mit kürzeren, meist achtsilbigen p1b_535.024
Versen, b. das geschweifte Sonett (Sonetto caudato), das man wegen seines p1b_535.025
Anhanges von einer oder mehrerer Terzinen auch Sonetto colla Coda nannte. p1b_535.026
(Der erste Vers der Coda hatte sieben Silben und reimte auf den letzten p1b_535.027
des Sonetts, die beiden andern waren elfsilbig und durch einen Reim miteinander p1b_535.028
verbunden, der im Sonett selbst nicht vorkam. Folgten dem Sonette p1b_535.029
mehrere Anhänge, so reimte der erste Vers des zweiten Anhangs auf den letzten p1b_535.030
des ersten Anhangs.) NB. Ein Sonett mit Coda (also mit drei Terzinen) p1b_535.031
findet sich bei Goethe unter der Überschrift B. und K., Bd. VI. S. 158, p1b_535.032
Ausg. 1840. Jn Frankreich wandte man die Sonettenform im 16. Jahrhundert p1b_535.033
an; in England wurde sie durch Wyat und Graf Surrey (der auch p1b_535.034
das erste Drama in Blankversen schrieb) eingeführt und vor Shakespeare, dem p1b_535.035
die Palme gebührt, durch Spenser zur Vollendung gebracht (Byron haßte das p1b_535.036
Sonett!). Der erste Dichter, der es in die deutsche Litteratur einführte, war p1b_535.037
Weckherlin (1584-1651). Seine Sonette waren - wie folgende Probe p1b_535.038
beweist - in Alexandrinern geschrieben:

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Über den Tod des Königs von Schweden.

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Dein eigner Mut, o Held, weil Gottsfurcht, Ehr und Recht p1b_535.041
Dein Herz und Schwert allein gestärket und gewötzet, p1b_535.042
Weil auch der Erdenkreis für dich zu eng und schlecht, p1b_535.043
Hat in den Himmel dich zu früh für uns versötzet.

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Bei Bodenstedt geniert mich z. B., daß ich oft unvorbereitet plötzlich p1b_535.002
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[535/0569] p1b_535.001 Bei Bodenstedt geniert mich z. B., daß ich oft unvorbereitet plötzlich p1b_535.002 an lauter männliche Reime anstoße, nachdem ich vorher durch eine Reihe weiblicher p1b_535.003 weicher gestimmt worden war. Ganz männlich oder ganz weiblich mochte p1b_535.004 ich nicht reimen, weil ersteres auf die Dauer entsetzlich hölzern, letzteres zu p1b_535.005 gefühlvoll und daher für starke Stellen nicht passend, Beides aber durchgeführt p1b_535.006 zu monoton ist. Jch wechselte also ab, wählte aber die Schlußzeilen weiblich, p1b_535.007 um das Sonett hübsch ausklingen zu lassen. Sind nicht gerade diese Schlußzeilen, p1b_535.008 die sich oft zu Sinnsprüchen gipfeln, eine Feinheit des englischen Sonetts, p1b_535.009 der nichts im Romanischen gleichkommt? Da schlängelt sich der Schlußgedanke p1b_535.010 immer durch mühsame Reimklippen hindurch, und die Prägnanz des Sinnspruches p1b_535.011 ist kaum möglich“ u. s. w. Jch bemerke in Bezug auf die gekreuzten Reime p1b_535.012 des englischen Sonetts, daß selbst Petrarka für die alternierenden Reime p1b_535.013 (a b a b) unsere beliebte, die beiden Glieder jedenfalls viel anschaulicher bezeichnende p1b_535.014 Form des umarmenden Reims (a b b a) gewählt hat. p1b_535.015 Geschichtliches über das Sonett. p1b_535.016 5. Das Sonett entstammte der provençalischen Poesie und wurde im p1b_535.017 13. Jahrhundert nach Jtalien verpflanzt, wo es zuerst Fra Guittone aus Arezzo p1b_535.018 († 1295) anwandte, und wo ihm sodann Petrarka († 1304) die höchste Vollendung p1b_535.019 verlieh. Dieser schrieb nicht weniger als 2400 Sonette, in denen er p1b_535.020 Lauras Schönheit pries. Seine Sonette sind so sehr Gefühl, daß wir aus p1b_535.021 sämtlichen Sonetten kaum mehr erfahren, als daß Lauras Haare blond und p1b_535.022 ihre Hände weiß und fein waren. Jn Jtalien bildeten sich mehrere Formen p1b_535.023 des Sonetts aus, z. B. a. das anakreontische Sonett mit kürzeren, meist achtsilbigen p1b_535.024 Versen, b. das geschweifte Sonett (Sonetto caudato), das man wegen seines p1b_535.025 Anhanges von einer oder mehrerer Terzinen auch Sonetto colla Coda nannte. p1b_535.026 (Der erste Vers der Coda hatte sieben Silben und reimte auf den letzten p1b_535.027 des Sonetts, die beiden andern waren elfsilbig und durch einen Reim miteinander p1b_535.028 verbunden, der im Sonett selbst nicht vorkam. Folgten dem Sonette p1b_535.029 mehrere Anhänge, so reimte der erste Vers des zweiten Anhangs auf den letzten p1b_535.030 des ersten Anhangs.) NB. Ein Sonett mit Coda (also mit drei Terzinen) p1b_535.031 findet sich bei Goethe unter der Überschrift B. und K., Bd. VI. S. 158, p1b_535.032 Ausg. 1840. Jn Frankreich wandte man die Sonettenform im 16. Jahrhundert p1b_535.033 an; in England wurde sie durch Wyat und Graf Surrey (der auch p1b_535.034 das erste Drama in Blankversen schrieb) eingeführt und vor Shakespeare, dem p1b_535.035 die Palme gebührt, durch Spenser zur Vollendung gebracht (Byron haßte das p1b_535.036 Sonett!). Der erste Dichter, der es in die deutsche Litteratur einführte, war p1b_535.037 Weckherlin (1584─1651). Seine Sonette waren ─ wie folgende Probe p1b_535.038 beweist ─ in Alexandrinern geschrieben: p1b_535.039 Über den Tod des Königs von Schweden. p1b_535.040 Dein eigner Mut, o Held, weil Gottsfurcht, Ehr und Recht p1b_535.041 Dein Herz und Schwert allein gestärket und gewötzet, p1b_535.042 Weil auch der Erdenkreis für dich zu eng und schlecht, p1b_535.043 Hat in den Himmel dich zu früh für uns versötzet.

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/569>, abgerufen am 25.11.2024.