p1b_018.001 klare Sätze, während die Prosa nicht selten lang ausgesponnene Perioden p1b_018.002 bringt u. s. w.
p1b_018.003 Die Gesetze der Prosa werden durch die Rhetorik erörtert, wie die der p1b_018.004 Poesie durch die Poetik. Freilich haben beide, da ihr Ausdrucksmittel die p1b_018.005 Sprache ist, in dieser Richtung viele Regeln mit einander gemein, welche in p1b_018.006 der Stilistik zu behandeln sind.
p1b_018.007 § 10. Ursprung und Alter der Poesie.
p1b_018.008 1. Die Poesie ist so alt als die Einbildungskraft der Menschen. p1b_018.009 Spuren der Poesie finden sich in der mythischen Geschichte eines jeden p1b_018.010 Volkes. Die meisten Völker leiten nachweislich die Poesie von den p1b_018.011 Göttern her.
p1b_018.012 2. Die Prosa trat erst nach der Poesie auf.
p1b_018.013 1. Es ist wahrscheinlich, daß die Poesie mit der Sprache selbst entstanden p1b_018.014 ist. Ohne Zweifel haben schon die ersten begabten Menschen sich poetisch p1b_018.015 geäußert, wenigstens ist nachweislich Poesie die älteste Sprache der Menschen. p1b_018.016 Jst doch auch in der Jugend des einzelnen Menschen die Sprache nicht selten p1b_018.017 mehr Gesang als Sprache im bestimmten Sinne. Bei der Menschenfamilie p1b_018.018 im Ganzen und Großen war es ebenso: Dichten und Singen ging mit p1b_018.019 einander Hand in Hand; eines bedingte das andere. Bei den p1b_018.020 Griechen übte der kaum geborene Hermes schon als erster Musiker Poesie. p1b_018.021 Seine Gesänge auf die Liebe des Zeus und der Maja und auf seine eigene p1b_018.022 Geburt begleitete er auf einem Jnstrument, das er sich herstellte, indem er die p1b_018.023 Schale der Schildkröte mit Saiten bezog, die durch ein Plektron geschlagen wurden.
p1b_018.024 Ein sagenhaft ältester Dichter der Griechen, Linos, Sohn Apollo's und p1b_018.025 einer Muse, soll die ersten Trauerlieder gesungen und damit den dichterischen p1b_018.026 Gesang und den dichterischen Rhythmus erfunden haben.
p1b_018.027 Gräber dieses Linos fanden sich in Theben, Chalkis, Argos und an andern p1b_018.028 Orten. Der alte Sänger Pamphos soll den Klaggesang am Linosgrab p1b_018.029 zuerst angestimmt haben. Nach der Sage der Argiver war Linos ein Knabe p1b_018.030 göttlichen Geschlechts, der bei Hirten unter Lämmern aufwuchs und von wütenden p1b_018.031 Hunden zerfleischt wurde. (Otfr. Müller, Geschichte der griech. Litter. p1b_018.032 2. Aufl. Band I. S. 28 u. 29.) Aus einem Verse Homers (Jl. XVIII. 569) p1b_018.033 ist bekannt, daß der Linosgesang bei der Traubenlese angestimmt wurde. Auch p1b_018.034 bei Festen wurde Linos von den Sängern und Kitharoden beklagt, wobei der p1b_018.035 Ausruf: "Ailine" Anfang und Schluß des Gesanges bildete. (Nach einem p1b_018.036 Fragment Hesiods bei Eusthatius S. 1163. edit. Gaisford. Nach neuerer p1b_018.037 Erklärung soll dies ein Mißverständnis des Refrains orientalischer Klaggesänge p1b_018.038 um den hinsterbenden Sommer sein, welcher hebräisch
voy lnav'
"wehe uns" p1b_018.039 lauten würde, dialektisch ai line. Daraus machten die Griechen den Namen p1b_018.040 des Beklagten.) Ein Analogon zu dem griechischen Linoslied (ailinos oder
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§ 10. Ursprung und Alter der Poesie. p1b_018.008
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/52>, abgerufen am 24.11.2024.
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