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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Der Südländer, dem die Fristung der Existenz weniger Sorge verursachte p1b_393.002
als dem Bewohner der nordischen Gegenden, und der viel längere Zeit die p1b_393.003
Schönheit der licht- und farbenstrahlenden Natur bewundern konnte, - er p1b_393.004
wurde schon frühe zur Musik, zur Melodie und ihrer rhythmischen Äußerung p1b_393.005
hingedrängt, daher auch zur Erfindung der musikalischen Jnstrumente: Panflöte, p1b_393.006
Schalmei, Horn, Orgel, Violine, sowie der rhythmischen Trommel &c. p1b_393.007
Die Natur erzeugte Musik, Gesang, Poesie, und es ist aus diesem Grunde p1b_393.008
erklärlich, warum die Völker an den gesegneten Küsten des Mittelmeeres in p1b_393.009
der Pflege der freien Künste die erste Stelle einnahmen, warum die rhythmische p1b_393.010
Poesie an Wohlklang, Zartheit und Vollendung namentlich in Griechenland p1b_393.011
zunahm, wo Schulen entstanden, welche die rhythmische Kunst fort entwickelten, p1b_393.012
ebenso bei den nachbildenden Lateinern, welche die Bildungselemente der Griechen p1b_393.013
in sich aufnahmen.

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Arm an Schönheit, arm an melodievollen, wenn auch nicht an weichen, p1b_393.015
süßen Wörtern und Klängen schufen sich die nordischen Sprachen im Gleichklang p1b_393.016
eine Art Ersatz für den wellenförmigen Rhythmus der Sprache südlicher Völker, p1b_393.017
dessen ihre nur praktischen Zwecken dienende Mitteilungsweise gar nicht fähig p1b_393.018
war. Der Nordländer, der wenig Sinn für den Rhythmus hatte, klammerte p1b_393.019
sich an den betonenden Gleichklang des Anfangskonsonanten; - und eigentümlich, p1b_393.020
charakteristisch deutsch mögen seine allitterierenden Schlachtgesänge erbraust sein. p1b_393.021
Erst später bildeten sich die verschiedenen Arten des Gleichklangs aus, was p1b_393.022
wir weiter unten zeigen werden.

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2. Der schmückende und die Betonung unterstützende Reim wurde allmählich p1b_393.024
von den bedeutsamsten Folgen für die gesamte Art und Weise deutsch=poetischer p1b_393.025
Darstellung; er wurde ein Charakteristikum für die ganze deutsche p1b_393.026
Poesie.
Bei den Alten stand jeder Vers selbständig für sich oder konnte wenigstens p1b_393.027
so stehen. Ein kleinstes Gedicht konnte allenfalls (möglicherweise) - auf p1b_393.028
einen Hexameter beschränkt - durch eine einzige Zeile repräsentiert werden. p1b_393.029
Bei uns fordert jeder Vers mindestens einen zweiten, um den Reim oder die p1b_393.030
Allitteration und die Assonanz zu vollenden. Das kürzeste Gedicht kann bei p1b_393.031
uns nur zweizeilig sein, weshalb - eben infolge dieses zweigliedrigen p1b_393.032
Klangverhältnisses oder Klang-Echos - der Parallelismus der Gedanken in p1b_393.033
unserer neueren Poesie, namentlich der Spruchpoesie, weit mehr vorhanden ist, p1b_393.034
als in der griechisch=antiken.

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3. Durch eine mehr als tausendjährige Anwendung ist der Reim bei uns p1b_393.036
ein elementares, geradezu unentbehrliches Besitztum unserer poetischen Sprache p1b_393.037
geworden. Will sich dieselbe, die doch durch eigene Kraft von der Antike und p1b_393.038
von der Anlehnung an andere Völker und Sprachen sich losgerungen hat, immer p1b_393.039
mehr dem Jdeale einer deutsch=nationalen poetischen Sprache zuwenden, p1b_393.040
so muß sie auch den deutschen Reim weiter pflegen. Denn der Umstand, daß p1b_393.041
einzelne Dichter bald in den Konsonanten, bald in den Vokalen den Reim p1b_393.042
verdarben, spricht gegen diese Dichter, nicht aber gegen den Reim.

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Der Südländer, dem die Fristung der Existenz weniger Sorge verursachte p1b_393.002
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/427>, abgerufen am 22.11.2024.