p1b_232.001 2. Das Opitzsche Betonungsgesetz, welches an Stelle der quantitierenden p1b_232.002 Prosodik die neue accentuierende setzt, hat trotz verschiedener Abirrungen - p1b_232.003 wie wir sie im vorigen Paragraphen charakterisierten - siegreich fortbestanden, p1b_232.004 ja, es ist von den größten Dichtern unserer Nation angewendet und bereichert p1b_232.005 worden, da sie lieber dem Sprachgefühl als den Regeln der Zeitmessung p1b_232.006 folgen wollten.
p1b_232.007 Lessing hat sich ostensibel geweigert, den musikalisch quantitierenden p1b_232.008 Rhythmus der Griechen anzuwenden. Schiller hat sich u. A. in den meisten p1b_232.009 seiner Dramen von ihm losgesagt, Goethe im Faust, Heine in seiner p1b_232.010 Lieblingsstrophe, Scheffel im Trompeter von Säkkingen, Geibel in Sigurds p1b_232.011 Brautfahrt, Rückert in Kind Horn u. s. w. (Vgl. die §§ 116-122.)
p1b_232.012 Alle unsere besten Dichter haben lieber sog. Verstöße gegen die hergebrachte p1b_232.013 Schulregel des Quantitätsprinzips begangen als gegen das Betonungsprinzip, p1b_232.014 obwohl Voß und seine Schule diese Verstöße sanktionierten. Alle haben sie in p1b_232.015 ihren besten Dichtungen praktisch bewiesen, daß unsere Quantitäten, wenn wir p1b_232.016 solche haben (vgl. § 80 von den Längen und Kürzen), durchaus vom Accent p1b_232.017 abhängen, ja, mit dem Accent zusammenfallen müssen, da nach § 80 bei uns p1b_232.018 nur betonte Silben als Längen und nur unbetonte als Kürzen gelten dürfen.
p1b_232.019 3. Wilhelm Jordan, Richard Wagner und einige Andere von p1b_232.020 geringeren Namen betonen in ihren Schöpfungen in höchstgesteigerter Weise p1b_232.021 das Betonungsprinzip. Sie gehen soweit, ganz und gar auf die sehr p1b_232.022 primitive, althochdeutsche Betonungsbasis zurückzutreten, auf welcher nämlich p1b_232.023 noch das bildliche Moment des Anlautkonsonanten metaphorischp1b_232.024 gewirkt haben mag. Für eine schärfere Accentuierung verlangen sie nämlich p1b_232.025 die Wiedereinführung der Allitteration, die doch bei unserem fein ausgebildeten p1b_232.026 Rhythmusgefühl unmöglich mehr zu einer allgemeinen Geltung gelangen wird, p1b_232.027 umsoweniger als die Vermählung unserer accentuierenden Prosodik mit dem p1b_232.028 Reim zur volkstümlichen That geworden ist.
p1b_232.029 4. Eine genauere Pflege des Accents und Beachtung der Accentgesetze, p1b_232.030 wie wir sie in den folgenden Paragraphen lehren werden, ist vor allem Aufgabe p1b_232.031 aller derjenigen, welche Verse bilden wollen. Von ihnen darf man mit p1b_232.032 Recht verlangen, daß sie beachten lernen, wie nur der Accent die Quantität p1b_232.033 bedingt. Es ist geradezu bedauerlich, welch blinder Zufall, welch maßlose p1b_232.034 Willkür, welch gesetzloses Radebrechen mit Wortfüßen (das dann durch p1b_232.035 nachhinkenden Reim wieder gut gemacht werden soll), welche aufgeblasene Leichtfertigkeit p1b_232.036 und Formlosigkeit (sogar in den dramatischen Jamben) bei den neueren p1b_232.037 und neuesten, oft recht dünkelhaften Dichtern herrscht. Schwere Silben werden p1b_232.038 als leichte gebraucht, leichte als schwere, - und Mancher glaubt schon Dichter p1b_232.039 zu sein, wenn er nur die 10 oder 11 Silben beim jambischen Quinar p1b_232.040 (§ 107. 5) erreicht oder die sechs Füße des Hexameters leidlich ausgefüllt hat.
p1b_232.041 Daß die Nichtkenntnis und Nichtbeachtung der Gesetze einer accentuierenden p1b_232.042 Metrik auch allen Rhythmus vernichtet und zur Prosa führt, ist an sich klar. p1b_232.043 Es ist hohe Zeit, für das Weiterblühen unserer so bildungsfähigen, poetischen p1b_232.044 Sprache durch Pflege der accentuierenden Prosodik und Metrik zu wirken und
p1b_232.001 2. Das Opitzsche Betonungsgesetz, welches an Stelle der quantitierenden p1b_232.002 Prosodik die neue accentuierende setzt, hat trotz verschiedener Abirrungen ─ p1b_232.003 wie wir sie im vorigen Paragraphen charakterisierten ─ siegreich fortbestanden, p1b_232.004 ja, es ist von den größten Dichtern unserer Nation angewendet und bereichert p1b_232.005 worden, da sie lieber dem Sprachgefühl als den Regeln der Zeitmessung p1b_232.006 folgen wollten.
p1b_232.007 Lessing hat sich ostensibel geweigert, den musikalisch quantitierenden p1b_232.008 Rhythmus der Griechen anzuwenden. Schiller hat sich u. A. in den meisten p1b_232.009 seiner Dramen von ihm losgesagt, Goethe im Faust, Heine in seiner p1b_232.010 Lieblingsstrophe, Scheffel im Trompeter von Säkkingen, Geibel in Sigurds p1b_232.011 Brautfahrt, Rückert in Kind Horn u. s. w. (Vgl. die §§ 116─122.)
p1b_232.012 Alle unsere besten Dichter haben lieber sog. Verstöße gegen die hergebrachte p1b_232.013 Schulregel des Quantitätsprinzips begangen als gegen das Betonungsprinzip, p1b_232.014 obwohl Voß und seine Schule diese Verstöße sanktionierten. Alle haben sie in p1b_232.015 ihren besten Dichtungen praktisch bewiesen, daß unsere Quantitäten, wenn wir p1b_232.016 solche haben (vgl. § 80 von den Längen und Kürzen), durchaus vom Accent p1b_232.017 abhängen, ja, mit dem Accent zusammenfallen müssen, da nach § 80 bei uns p1b_232.018 nur betonte Silben als Längen und nur unbetonte als Kürzen gelten dürfen.
p1b_232.019 3. Wilhelm Jordan, Richard Wagner und einige Andere von p1b_232.020 geringeren Namen betonen in ihren Schöpfungen in höchstgesteigerter Weise p1b_232.021 das Betonungsprinzip. Sie gehen soweit, ganz und gar auf die sehr p1b_232.022 primitive, althochdeutsche Betonungsbasis zurückzutreten, auf welcher nämlich p1b_232.023 noch das bildliche Moment des Anlautkonsonanten metaphorischp1b_232.024 gewirkt haben mag. Für eine schärfere Accentuierung verlangen sie nämlich p1b_232.025 die Wiedereinführung der Allitteration, die doch bei unserem fein ausgebildeten p1b_232.026 Rhythmusgefühl unmöglich mehr zu einer allgemeinen Geltung gelangen wird, p1b_232.027 umsoweniger als die Vermählung unserer accentuierenden Prosodik mit dem p1b_232.028 Reim zur volkstümlichen That geworden ist.
p1b_232.029 4. Eine genauere Pflege des Accents und Beachtung der Accentgesetze, p1b_232.030 wie wir sie in den folgenden Paragraphen lehren werden, ist vor allem Aufgabe p1b_232.031 aller derjenigen, welche Verse bilden wollen. Von ihnen darf man mit p1b_232.032 Recht verlangen, daß sie beachten lernen, wie nur der Accent die Quantität p1b_232.033 bedingt. Es ist geradezu bedauerlich, welch blinder Zufall, welch maßlose p1b_232.034 Willkür, welch gesetzloses Radebrechen mit Wortfüßen (das dann durch p1b_232.035 nachhinkenden Reim wieder gut gemacht werden soll), welche aufgeblasene Leichtfertigkeit p1b_232.036 und Formlosigkeit (sogar in den dramatischen Jamben) bei den neueren p1b_232.037 und neuesten, oft recht dünkelhaften Dichtern herrscht. Schwere Silben werden p1b_232.038 als leichte gebraucht, leichte als schwere, ─ und Mancher glaubt schon Dichter p1b_232.039 zu sein, wenn er nur die 10 oder 11 Silben beim jambischen Quinar p1b_232.040 (§ 107. 5) erreicht oder die sechs Füße des Hexameters leidlich ausgefüllt hat.
p1b_232.041 Daß die Nichtkenntnis und Nichtbeachtung der Gesetze einer accentuierenden p1b_232.042 Metrik auch allen Rhythmus vernichtet und zur Prosa führt, ist an sich klar. p1b_232.043 Es ist hohe Zeit, für das Weiterblühen unserer so bildungsfähigen, poetischen p1b_232.044 Sprache durch Pflege der accentuierenden Prosodik und Metrik zu wirken und
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Lieblingsstrophe, Scheffel im Trompeter von Säkkingen, Geibel in Sigurds p1b_232.011
Brautfahrt, Rückert in Kind Horn u. s. w. (Vgl. die §§ 116─122.)
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nur betonte Silben als Längen und nur unbetonte als Kürzen gelten dürfen.
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3. Wilhelm Jordan, Richard Wagner und einige Andere von p1b_232.020
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und Formlosigkeit (sogar in den dramatischen Jamben) bei den neueren p1b_232.037
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/266>, abgerufen am 25.11.2024.
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