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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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§ 57. Die Hyperbel.


Die Hyperbel (ὑπερβολὴ == superlatio) ist die Figur der Übertreibung.
Sie kennt in ihrer Bezeichnung weder die Grenzen des Wahrscheinlichen,
noch des Wirklichen und Möglichen. Die dichterisch erregte
Phantasie sieht die Gegenstände eben durch das Vergrößerungsglas
der steigernden Begeisterung an, ihr erscheint Manches in verklärter
Übertreibung, was der nüchtern prosaische Pedant sofort als Unwahrheit
erklären würde. Steigerung der Leidenschaft bewirkt Vergrößerung
der Hyperbeln. Man unterscheidet die naive Hyperbel und die Hyperbel
der Reflexion.


Die Hyperbel sollte nur sparsam und zumeist nur in hochpathetischen,
durch die Gefühle der Furcht, des Mitleids, der Freude gerechtfertigten Fällen
zur Anwendung gelangen. Wird sie bei der Schilderung gleichgiltiger Zustände
angewendet, so erscheint sie wie eine Parodie der pathetischen Hyperbel und
erreicht in komischen Dichtungen ihre Wirkung.


A. Die naive Hyperbel.


Bei der naiven Hyperbel hat die Phantasie des kindlichen Gemüts
keinen Zweifel an der Wahrheit des Gesagten.


Sie ist ─ ihrer metaphorisch=pathetischen Bedeutung entkleidet ─ häufig in
die gewöhnliche Sprache übergegangen in Redensarten, wie: „ich platze vor Wut“;
„vor Angst standen mir die Haare zu Berge“; „das Blut floß in Strömen“;
„sie standen im Kugelregen“; „sie war in Thränen gebadet“. Ferner in
Höflichkeitsformen, wie: „tausendmal um Entschuldigung bitten“; „gehorsamster
unterthänigster Diener“; wie endlich in der Schilderung. Naive Schilderungs=
Hyperbeln waren die für die kindlich=orientalische Phantasie der Jnder
berechnet gewesenen Hyperbeln in „Geschichte des Bhagirathas“ im Ramajana
(Book I Sect. 32─35 S. 50 der Jnd. Bibl.), wo u. A. erzählt wird,
daß Brahma dem Könige Sagaras aus einem Kürbisse 60,000 Kinder herauswachsen
ließ; daß der heilige Jahnus erzürnt über den Lauf der Ganga alle
Wasser des Stromes in sich aufnahm, obwohl diese unablässig nachströmten; daß
Bhagirathas im heißen Sommer zwischen 4 mächtigen Feuern die glühenden
Sonnenstrahlen auf sein entblößtes Haupt wirken ließ, während er im Winter
im Schnee schlief und sich nur von welkendem Laube nährte u. s. w. Eine
naive Hyperbel ist es, wenn es in Rückerts Ges. Ausg. XII, 128 heißt:


Und als zu Kohlenglut war eingebrannt die Flamm',
Erkor der Recke sich zum Bratspieß einen Stamm,
Der Elke feistesten steckt er an diesen Baum,
Der wog in seiner Hand nicht eines Vogels Flaum.


Weitere Beispiele der naiven Hyperbel:


Diesen Talbot
Den himmelstürmend hunderthändigen.

(Schiller, Jungfrau v. Orleans).

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/240>, abgerufen am 21.02.2025.