Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.p1b_093.001 p1b_093.003 Süße, meiner Kindheit Auen, p1b_093.008 Die ich lange nicht gesehn, p1b_093.009 Wenn von euch die Lüfte wehn, p1b_093.010 Fühl' ich meine Augen tauen. p1b_093.011 Städt' und Länder mocht ich schauen, p1b_093.012 Blaß an mir vorübergehn, p1b_093.013 Aber eure Hügel stehn p1b_093.014 Jm Gedächtnis ohn' Ergrauen. p1b_093.015 Könnt' ich es vom Glück erflehn, p1b_093.016 Nach der Jahre zweimal zehn p1b_093.017 Noch einmal euch blühn zu sehn! p1b_093.018 Wo die Leinach und die Lauer p1b_093.019 Suchen sich im Wiesengras, p1b_093.020 Deren Bett mein Sprung ermaß p1b_093.021 Unterm dunkeln Erlenschauer; p1b_093.022 Brüderbäche kurzer Dauer, p1b_093.023 Zwischen denen ich besaß p1b_093.024 Doch des Glückes Eiland, das p1b_093.025 Faßt kein Ocean, kein blauer! p1b_093.026 Was ich Großes sonst vergaß, p1b_093.027 Nie vergeß ich eines: was p1b_093.028 Jch an euch für Veilchen las. (Fr. Rückert.) p1b_093.029Oder: Über allen Gipfeln p1b_093.030 Jst Ruh, p1b_093.031 Jn allen Wipfeln p1b_093.032 Spürest du p1b_093.033 Kaum einen Hauch; p1b_093.034 Die Vögelein schweigen im Walde. p1b_093.035 Warte nur, balde p1b_093.036 Ruhest du auch. (Goethe.) p1b_093.037 p1b_093.041 p1b_093.042 p1b_093.001 p1b_093.003 Süße, meiner Kindheit Auen, p1b_093.008 Die ich lange nicht gesehn, p1b_093.009 Wenn von euch die Lüfte wehn, p1b_093.010 Fühl' ich meine Augen tauen. p1b_093.011 Städt' und Länder mocht ich schauen, p1b_093.012 Blaß an mir vorübergehn, p1b_093.013 Aber eure Hügel stehn p1b_093.014 Jm Gedächtnis ohn' Ergrauen. p1b_093.015 Könnt' ich es vom Glück erflehn, p1b_093.016 Nach der Jahre zweimal zehn p1b_093.017 Noch einmal euch blühn zu sehn! p1b_093.018 Wo die Leinach und die Lauer p1b_093.019 Suchen sich im Wiesengras, p1b_093.020 Deren Bett mein Sprung ermaß p1b_093.021 Unterm dunkeln Erlenschauer; p1b_093.022 Brüderbäche kurzer Dauer, p1b_093.023 Zwischen denen ich besaß p1b_093.024 Doch des Glückes Eiland, das p1b_093.025 Faßt kein Ocean, kein blauer! p1b_093.026 Was ich Großes sonst vergaß, p1b_093.027 Nie vergeß ich eines: was p1b_093.028 Jch an euch für Veilchen las. (Fr. Rückert.) p1b_093.029Oder: Über allen Gipfeln p1b_093.030 Jst Ruh, p1b_093.031 Jn allen Wipfeln p1b_093.032 Spürest du p1b_093.033 Kaum einen Hauch; p1b_093.034 Die Vögelein schweigen im Walde. p1b_093.035 Warte nur, balde p1b_093.036 Ruhest du auch. (Goethe.) p1b_093.037 p1b_093.041 p1b_093.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0127" n="93"/><lb n="p1b_093.001"/> Schönen zu gelangen, welches lieblich und reizend zugleich ist. Vorliebe für's <lb n="p1b_093.002"/> Reizende verrät Mangel an Kraft.</p> <p><lb n="p1b_093.003"/> Das Rührende als Ausdruck des Weltschmerzes steht <hi rendition="#g">unter</hi> dem Reizenden. <lb n="p1b_093.004"/> Bildet jedoch sein Wesen jene ernst beschauliche Stimmung, die mit <lb n="p1b_093.005"/> stiller Wehmut und süßer Resignation verschwistert ist, so steht es <hi rendition="#g">über</hi> dem <lb n="p1b_093.006"/> Reizenden, z. 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Dem beweglichen Reizenden (Anmutigen) tritt das mehr starre, <lb n="p1b_093.043"/> durch seine Form imponierende <hi rendition="#g">Erhabene</hi> gegenüber. Zu seinem <lb n="p1b_093.044"/> Wesen gehört das Große, Gewaltige, Jmponierende, Würdevolle. Es <lb n="p1b_093.045"/> kann sich bis zum Furchtbaren oder Maßlosen steigern, von dem es <lb n="p1b_093.046"/> sich dadurch unterscheidet, daß es vom Maß beherrscht ist, wenn es <lb n="p1b_093.047"/> auch unseres gewöhnlichen Maßstabes spottet. Das Erhabene wirkt </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [93/0127]
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Schönen zu gelangen, welches lieblich und reizend zugleich ist. Vorliebe für's p1b_093.002
Reizende verrät Mangel an Kraft.
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Das Rührende als Ausdruck des Weltschmerzes steht unter dem Reizenden. p1b_093.004
Bildet jedoch sein Wesen jene ernst beschauliche Stimmung, die mit p1b_093.005
stiller Wehmut und süßer Resignation verschwistert ist, so steht es über dem p1b_093.006
Reizenden, z. B.:
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Süße, meiner Kindheit Auen, p1b_093.008
Die ich lange nicht gesehn, p1b_093.009
Wenn von euch die Lüfte wehn, p1b_093.010
Fühl' ich meine Augen tauen. p1b_093.011
Städt' und Länder mocht ich schauen, p1b_093.012
Blaß an mir vorübergehn, p1b_093.013
Aber eure Hügel stehn p1b_093.014
Jm Gedächtnis ohn' Ergrauen. p1b_093.015
Könnt' ich es vom Glück erflehn, p1b_093.016
Nach der Jahre zweimal zehn p1b_093.017
Noch einmal euch blühn zu sehn! p1b_093.018
Wo die Leinach und die Lauer p1b_093.019
Suchen sich im Wiesengras, p1b_093.020
Deren Bett mein Sprung ermaß p1b_093.021
Unterm dunkeln Erlenschauer; p1b_093.022
Brüderbäche kurzer Dauer, p1b_093.023
Zwischen denen ich besaß p1b_093.024
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Faßt kein Ocean, kein blauer! p1b_093.026
Was ich Großes sonst vergaß, p1b_093.027
Nie vergeß ich eines: was p1b_093.028
Jch an euch für Veilchen las.
(Fr. Rückert.)
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Oder:
Über allen Gipfeln p1b_093.030
Jst Ruh, p1b_093.031
Jn allen Wipfeln p1b_093.032
Spürest du p1b_093.033
Kaum einen Hauch; p1b_093.034
Die Vögelein schweigen im Walde. p1b_093.035
Warte nur, balde p1b_093.036
Ruhest du auch.
(Goethe.)
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Das Reizende (Anmutige) wurde zuerst durch Schiller (in der Abhandlung: p1b_093.038
Über Anmut und Würde) bestimmt. Hegel stellte den Begriff philosophisch fest. p1b_093.039
Schiller nennt es die bewegte Schönheit, Schasler die Schönheit der Bewegung.
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3. Das Erhabene und seine Unterarten.
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1. Dem beweglichen Reizenden (Anmutigen) tritt das mehr starre, p1b_093.043
durch seine Form imponierende Erhabene gegenüber. Zu seinem p1b_093.044
Wesen gehört das Große, Gewaltige, Jmponierende, Würdevolle. Es p1b_093.045
kann sich bis zum Furchtbaren oder Maßlosen steigern, von dem es p1b_093.046
sich dadurch unterscheidet, daß es vom Maß beherrscht ist, wenn es p1b_093.047
auch unseres gewöhnlichen Maßstabes spottet. Das Erhabene wirkt
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