p1b_092.001 Zur Verdeutlichung dieser Behauptung denke man an eine Schilderung p1b_092.002 der vorschreitenden Pest, des Aussatzes oder an den widrigen Grendel im p1b_092.003 angelsächsischen Gedicht Beowulf, der dreißig Helden zerreißt, ihr Gebein p1b_092.004 zerknirscht, ihr Blut schlürft, bis ihn Beowulf tötet. Die Leute entfliehen, als p1b_092.005 der unter der Hand des Gegners sterbende Grendel sein grausiges Totenlied p1b_092.006 brüllt:
p1b_092.007
Sie sahn im Wasser Wurmgeschlechter viel,p1b_092.008 Seltsame Seedrachen sich im Sumpfe tummelnp1b_092.009 Und an der Klippen Nasen die Nichse lauern,p1b_092.010 Hinweg floh Gewürm und wild Getier.
p1b_092.011 Die Besiegung des Furchtbaren, Grausigen, Schrecklichen schafft erst den p1b_092.012 Zustand, den wir ästhetische Freiheit nennen.
p1b_092.013 Der Dichter darf das Häßlich-Furchtbare, Grausige &c. nur für den p1b_092.014 Kontrast, also nur spärlich anwenden; immer muß er es besiegen lassen p1b_092.015 oder es zu bändigen verstehen, um die ästhetische Freiheit zu retten. Ein p1b_092.016 Shakespeare kann schon einmal das Grausige bieten, da er es zu bewältigen p1b_092.017 vermag. Wenn aber mittlere Dichter Geister auf die Bühne bringen, die sie p1b_092.018 nicht bannen können, so daß beim Zuschauer bange Erwartungen und grausige p1b_092.019 Eindrücke mit dem Gefühl der Unwahrscheinlichkeit wechseln, so ist das Ungeschicklichkeit p1b_092.020 und beweist (wie beispielshalber der R. Wagnersche Drache) die Wahrheit p1b_092.021 des Napoleonschen Ausspruchs: du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas.
p1b_092.022 § 25. Erscheinungsformen des Schönen.
p1b_092.023 Als solche sind aufzuführen 1. das Lachbare, 2. das Reizende, p1b_092.024 3. das Erhabene, 4. das Komische.
p1b_092.025 1. Das Lachbare.
p1b_092.026 Das Lachbare - nicht das Lächerliche - steht dem Furchtbaren p1b_092.027 gegenüber und ist in der Ästhetik soviel als das Gleichgültige.
p1b_092.028 Das Lachbare grenzt an's Niedrige und dieses an's Gemeine, Plebejische, Niedrigkomische p1b_092.029 (§ 20). Das gewöhnliche, keifende Marktweib, der Hanswurst im alten p1b_092.030 Fastnachtsspiel, der Pöbel in den Shakespeareschen Dramen sind seine Typen &c.
p1b_092.031 2. Das Reizende (Anmutige).
p1b_092.032 Vom Lachbaren (Gleichgültigen) ist das Reizende zu unterscheiden. p1b_092.033 Es offenbart sich durch abgerundete, gefällige Form und leicht verständlichen p1b_092.034 Jnhalt und bringt unserem Gemüt den Eindruck des Angenehmen.p1b_092.035 Seine Unterarten sind das Hübsche, Niedliche, Nette, p1b_092.036 Zierliche, sowie das Rührende. Es hat stets den Charakter des Heiteren, p1b_092.037 Kleinen, Zarten, Gefälligen, Sanften, Maßvollen.
p1b_092.038 Der tiefer Stehende ist schon durch das Niedliche befriedigt, während der p1b_092.039 höher Gebildete zum Reizenden emporstrebt, um darüber hinweg zum rein
p1b_092.001 Zur Verdeutlichung dieser Behauptung denke man an eine Schilderung p1b_092.002 der vorschreitenden Pest, des Aussatzes oder an den widrigen Grendel im p1b_092.003 angelsächsischen Gedicht Beowulf, der dreißig Helden zerreißt, ihr Gebein p1b_092.004 zerknirscht, ihr Blut schlürft, bis ihn Beowulf tötet. Die Leute entfliehen, als p1b_092.005 der unter der Hand des Gegners sterbende Grendel sein grausiges Totenlied p1b_092.006 brüllt:
p1b_092.007
Sie sahn im Wasser Wurmgeschlechter viel,p1b_092.008 Seltsame Seedrachen sich im Sumpfe tummelnp1b_092.009 Und an der Klippen Nasen die Nichse lauern,p1b_092.010 Hinweg floh Gewürm und wild Getier.
p1b_092.011 Die Besiegung des Furchtbaren, Grausigen, Schrecklichen schafft erst den p1b_092.012 Zustand, den wir ästhetische Freiheit nennen.
p1b_092.013 Der Dichter darf das Häßlich-Furchtbare, Grausige &c. nur für den p1b_092.014 Kontrast, also nur spärlich anwenden; immer muß er es besiegen lassen p1b_092.015 oder es zu bändigen verstehen, um die ästhetische Freiheit zu retten. Ein p1b_092.016 Shakespeare kann schon einmal das Grausige bieten, da er es zu bewältigen p1b_092.017 vermag. Wenn aber mittlere Dichter Geister auf die Bühne bringen, die sie p1b_092.018 nicht bannen können, so daß beim Zuschauer bange Erwartungen und grausige p1b_092.019 Eindrücke mit dem Gefühl der Unwahrscheinlichkeit wechseln, so ist das Ungeschicklichkeit p1b_092.020 und beweist (wie beispielshalber der R. Wagnersche Drache) die Wahrheit p1b_092.021 des Napoleonschen Ausspruchs: du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas.
p1b_092.022 § 25. Erscheinungsformen des Schönen.
p1b_092.023 Als solche sind aufzuführen 1. das Lachbare, 2. das Reizende, p1b_092.024 3. das Erhabene, 4. das Komische.
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Fastnachtsspiel, der Pöbel in den Shakespeareschen Dramen sind seine Typen &c.
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2. Das Reizende (Anmutige).
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/126>, abgerufen am 22.11.2024.
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