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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Sonst folgten harte Strafen, p1b_089.002
Daß er so schlecht gewacht.
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Wem dieses mocht' gelingen, p1b_089.004
Der konnte wohl begehren p1b_089.005
Von allen seltnen Dingen: p1b_089.006
Man mußte sie gewähren.
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Beim Sperber war in Ehren p1b_089.008
Ein trefflich schönes Weib, p1b_089.009
Konnt' einer all' begehren, p1b_089.010
Nicht ihren schönen Leib.
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Gyot, der junge König, p1b_089.012
Rüst' sich im kecken Mut, p1b_089.013
Er dünkte sich nicht wenig p1b_089.014
Zum Abenteuer gut.
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Er sprach zu sich im Herzen: p1b_089.016
Gelingt der Zeitvertreib, p1b_089.017
So fordr' ich ohne Scherzen p1b_089.018
Doch nur das edle Weib.
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Zog aus mit vielen Leuten, p1b_089.020
Und mit Gefolge groß, p1b_089.021
Da sahen sie von Weiten p1b_089.022
Das wundersame Schloß.
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Auf grüner Wiese milde p1b_089.024
Ließ er die Diener sein p1b_089.025
Und ging mit Schwert und Schilde p1b_089.026
Keck in's Burgthor hinein.
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Da kam ein alter Mann, p1b_089.028
Gar klein und krumm und bleich, p1b_089.029
War schneeweiß angethan, p1b_089.030
Sein Bart war weiß zugleich.
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u. s. w.

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Mangel an Absichtlichkeit, Natürlichkeit der Erscheinung, wird in der p1b_089.033
Ästhetik als das Naive bezeichnet. Es ist dasjenige Kindliche, welches da p1b_089.034
auftritt, wo man es nicht erwartet, weshalb es eben - der Kindheit nicht p1b_089.035
zuzuschreiben ist. Das Naive in der Darstellung eines künstlerischen Motivs p1b_089.036
muß das Gepräge der Unabsichtlichkeit tragen. Keinesfalls darf es den Eindruck p1b_089.037
machen, als ob es für den Beschauer oder Beurteiler berechnet sei. "Man p1b_089.038
merkt die Absicht und man wird verstimmt", sagt Goethe vom erkünstelten p1b_089.039
Naiven. Ohne Naivetät kein Klassisches. Das Naive oder der Anschein des p1b_089.040
Naiven ist der höchste Kunstzweck.

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Beispiel des Naiven:

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Am Himmel ist kein Stern, p1b_089.043
Den ich dem Freund nicht gönnte, p1b_089.044
Mein Herz gäb' ich ihm gern, p1b_089.045
Wenn ich's heraus thun könnte.
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(Rückert.)

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Sonst folgten harte Strafen, p1b_089.002
Daß er so schlecht gewacht.
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Wem dieses mocht' gelingen, p1b_089.004
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Das wundersame Schloß.
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Mangel an Absichtlichkeit, Natürlichkeit der Erscheinung, wird in der p1b_089.033
Ästhetik als das Naive bezeichnet. Es ist dasjenige Kindliche, welches da p1b_089.034
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Beispiel des Naiven:

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(Rückert.)

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/123>, abgerufen am 28.11.2024.