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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Das Klassische. (Classici waren Schriftsteller ersten Ranges nach dem p1b_088.002
Kanon der alexandrinischen Grammatiker.) Der Maßstab des Klassischen und der p1b_088.003
Klassizität (Mustergültigkeit) ist zwar auch von der Bildung des Jahrhunderts p1b_088.004
der einzelnen Nationen abhängig, aber allmählich arbeiten sich auch die niedrigsten p1b_088.005
Völker zu einer das Klassische anerkennenden höheren Geschmacksbildung heraus. p1b_088.006
Die höher gebildeten Nationen stimmen bereits darin überein, den hervorragenden p1b_088.007
Kunstleistungen des römischen und griechischen Altertums Klassizität p1b_088.008
zuzugestehen und namentlich die aus der Blütezeit römischer und griechischer p1b_088.009
Litteratur erhaltenen Dichter als Klassiker zu ehren. Uns ist das Vollschöne p1b_088.010
das Klassische.

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Das Romantische ist zweifelhaft, zuthatenfähig, gestört im gesunden p1b_088.012
Zusammenhange. Es ist relativ schön und befriedigt nur (sofern es sich in der p1b_088.013
Form dem Klassischen nähert) den dafür prädestinierten eigenartigen Geschmack. p1b_088.014
Man könnte das Romantische als das Schöne ohne Begrenzung bezeichnen. Sein p1b_088.015
Charakter ist der des Wunderbaren, Unerwarteten, Überraschenden, wie es die p1b_088.016
Stoffe aus der Ritterzeit des christlichen Mittelalters bieten. Jn der sinnigen, p1b_088.017
von den germanischen Völkern nach dem Süden gebrachten und dort christlich p1b_088.018
fromm gewordenen keuschen Liebe der Frauen erreichte es seine Blüte. Eine p1b_088.019
Venus ist klassisch schön, eine Madonna nur romantisch. Die deutsche p1b_088.020
romantische Schule (von 1807 bis Ende der dreißiger Jahre) stellte sich in Gegensatz p1b_088.021
zur klassischen Richtung, deren volle Schönheit in ihrem Verständnis p1b_088.022
und Genuß dem wenig gebildeten Volksgeschmack zu fernstehend war. Sie erstrebte p1b_088.023
lediglich oder vorzugsweise Gefühlsinnigkeit und volkstümliche, einer p1b_088.024
kindlicheren Anschauungs- und Geschmacksweise eigenartige Wärme. Für ein p1b_088.025
Beispiel des Tones der romantischen Poesie schreiben wir einige Strophen aus p1b_088.026
der "Melusine" des Vollenders der Romantik Ludwig Tieck her:

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Ein wunderhohes Schloß p1b_088.028
Lag in demselben Land, p1b_088.029
Und drinnen Schätze groß, p1b_088.030
Wie jedermann bekannt.
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Jm Schloß war ein Gesichte, p1b_088.032
Das Jeden Wunder nahm p1b_088.033
Und manchem armen Wichte p1b_088.034
Nicht sonderlich bekam.
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Wer gern die Schätze wollte, p1b_088.036
Die auf dem Schlosse lagen, p1b_088.037
Von Gold und Erz, der sollte p1b_088.038
Ein seltsam Ding drum wagen.
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Ein Sperber saß wohl dorten, p1b_088.040
Den man bewachen soll, p1b_088.041
An jenen Wunderorten p1b_088.042
Drei Tag und Nächte wohl.
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Und keiner durfte schlafen p1b_088.044
Bei Tag und in der Nacht,

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/122>, abgerufen am 24.11.2024.