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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Übergang in's Erhabene empfunden. Jch erinnere an den imponierenden Vorderkörper p1b_085.002
des Löwen; an den gotischen Turm und das sich anschließende, dem p1b_085.003
Löwenkörper von der Seite ähnelnde Langhaus; an den kleineren Teil in der p1b_085.004
Laokoonsgruppe (der sterbende Sohn, der den größeren Teil durch die Bedeutung p1b_085.005
aufwiegt). Jm Drama besteht ein gleiches Verhältnis. Man beachte nur die p1b_085.006
beiden letzten Akte im Verhältnis zu den drei vorhergehenden. Jm lyrischen p1b_085.007
Gedicht hält der kurze Abgesang den beiden Stollen des Aufgesangs die Wage; p1b_085.008
in der Priamel die zusammenfassende letzte Verszeile allen übrigen vorhergehenden. p1b_085.009
Man vergleiche auch das Epigramm; allenfalls auch den Refrain in der p1b_085.010
Strophe. Jm zusammengesetzten Satz zeigt sich das maßersetzende Gewicht im p1b_085.011
bedeutungsvollen Nachsatz. Ein einzelnes Wort kann eine langatmige Periode p1b_085.012
aufwiegen. Jm Verstakt wie im Worttakt hält eine Hebung (-) beliebig p1b_085.013
vielen Senkungen () die Wagschale. Man vgl. Worte wie herrlichere, p1b_085.014
bessere, Fü-rstlichke,iten &c. Dies ist bei Bildung von Accentversen ungemein p1b_085.015
wichtig.

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§ 22. Verhältnis des Ästhetischen zum Ethischen.

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Ein wesentliches ästhetisches Moment liegt in der Harmonie zwischen p1b_085.018
Wesen und Erscheinung, zwischen Jnhalt, Tendenz und Form. Die p1b_085.019
Kunst hat darauf Rücksicht zu nehmen bei Vernichtung des Stoffes p1b_085.020
durch die Form oder bei Verarbeitung des rohen Stoffes in die p1b_085.021
ästhetische Erscheinung.

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Jeder Künstler muß durch ästhetische Kraft, Reinheit, Heiligkeit des künstlerischen p1b_085.023
Sinnes wirken. So wird unter seinen Händen zum Meisterwerk sich p1b_085.024
gestalten, was vom Stümper herrührend schamlos, abscheulich erscheint. Um p1b_085.025
ein Beispiel zu geben, so muß der Dramendichter die objektive Erscheinung p1b_085.026
geben, ohne den Beschauer ethisch zu bestimmen und ihm dadurch die ungetrübte p1b_085.027
Freiheit ästhetischer Beurteilung zu rauben; er stellt sich sonst unter das ethische p1b_085.028
Maß und verwirrt die ästhetische Beurteilung seiner Dichtung durch die p1b_085.029
ethische. Daß die Tendenz eines schönen vollendeten Gedichts für die sittliche p1b_085.030
Haltung gefährlich sei, darf uns das ästhetische Wohlgefallen an demselben p1b_085.031
nicht alterieren. Die Bösewichte Edmund (im König Lear), Karl Moor (in p1b_085.032
den Räubern), Macbeth &c. sind ästhetisch viel bedeutender als angekränkelte, p1b_085.033
sentimental abgeblaßte, langweilende Tugendhelden oder Amaranthnaturen. p1b_085.034
Das Gute, welches man nach seinen drei Hauptformen der Unschuld, der p1b_085.035
Pflicht und des sittlichen Kampfes aufzufassen hat, ist eben nicht deshalb lobenswert, p1b_085.036
weil es gut, sondern weil es schön ist; das Böse ist nicht deshalb p1b_085.037
hassenswert, weil es schlecht, sondern weil es häßlich ist. Da das Schöne p1b_085.038
dem Stoffartigen entrückt sein kann, so vermag es die Unschuld freier zu entfalten, p1b_085.039
als dies im Guten geschehen kann. Daher ist auch das Schöne über p1b_085.040
die dem gemeinen Leben der künstlerischen Unbildung vorgezeichneten Grenzen

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/119>, abgerufen am 22.11.2024.