doch ist auch auf Puchta's Gewohnheitsrecht (2 Bände, Er- langen 1828 und 1837) besondere Rücksicht zu nehmen, weil darin nicht bloß die v. Savigny'schen Ansichten weiter ausge- führt, sondern auch zum Theil neu und selbständig begründet sind, so daß wiederum der erste Band des Systems des heu- tigen römischen Rechts in wesentlichen Puncten darauf beruht. Stahl ist in seiner Rechtsphilosophie auf diese Seite der Rechts- lehre weniger selbständig eingegangen.
Das Recht ist in seiner ersten Entstehung nicht das Pro- duct des Zufalls oder der menschlichen Willkühr, Ueberlegung und Weisheit; weder die Gesetzgebung, noch die philosophische Abstraction hat es geschaffen. Auf der breiten Basis allge- mein menschlicher Verhältnisse entwickelt es sich unmittelbar im Volksleben, wie die Sitte und die Sprache; es ist leben- dig in dem gemeinsamen Bewußtseyn des Volkes, von dessen individueller Beschaffenheit es auch seinen besonderen Charakter erhält. Die einfachen Zustände, in denen sich die Völker in ihrer Jugendzeit finden, gestatten eine solche unmittelbare An- schauung der Rechtsinstitute, welche fern von aller bewußten Reflexion, mit einer gewissen Nothwendigkeit das Richtige trifft, und deswegen eben, wie ein Theil des Volksglaubens, gleichmäßig die Gesammtheit erfüllt. Die Zeit des Volksrechts ist auch die der Volksgerichte. -- Aber in der weiteren Ent- wicklung der menschlichen Dinge nehmen die ursprünglich so einfachen Verhältnisse allmälig eine krausere Gestalt an; die Rechtsinstitute bekommen eine Geschichte; das Volk in seiner Gesammtheit verliert die sichere und unmittelbare Beherrschung seines Rechts, welches in allen Beziehungen nur von denen, die sich besonders damit beschäftigen, richtig erkannt und an- gewandt wird. Denn es scheiden sich auch schon die Stände,
Feſtſtellung des Gegenſtandes.
doch iſt auch auf Puchta’s Gewohnheitsrecht (2 Baͤnde, Er- langen 1828 und 1837) beſondere Ruͤckſicht zu nehmen, weil darin nicht bloß die v. Savigny’ſchen Anſichten weiter ausge- fuͤhrt, ſondern auch zum Theil neu und ſelbſtaͤndig begruͤndet ſind, ſo daß wiederum der erſte Band des Syſtems des heu- tigen roͤmiſchen Rechts in weſentlichen Puncten darauf beruht. Stahl iſt in ſeiner Rechtsphiloſophie auf dieſe Seite der Rechts- lehre weniger ſelbſtaͤndig eingegangen.
Das Recht iſt in ſeiner erſten Entſtehung nicht das Pro- duct des Zufalls oder der menſchlichen Willkuͤhr, Ueberlegung und Weisheit; weder die Geſetzgebung, noch die philoſophiſche Abſtraction hat es geſchaffen. Auf der breiten Baſis allge- mein menſchlicher Verhaͤltniſſe entwickelt es ſich unmittelbar im Volksleben, wie die Sitte und die Sprache; es iſt leben- dig in dem gemeinſamen Bewußtſeyn des Volkes, von deſſen individueller Beſchaffenheit es auch ſeinen beſonderen Charakter erhaͤlt. Die einfachen Zuſtaͤnde, in denen ſich die Voͤlker in ihrer Jugendzeit finden, geſtatten eine ſolche unmittelbare An- ſchauung der Rechtsinſtitute, welche fern von aller bewußten Reflexion, mit einer gewiſſen Nothwendigkeit das Richtige trifft, und deswegen eben, wie ein Theil des Volksglaubens, gleichmaͤßig die Geſammtheit erfuͤllt. Die Zeit des Volksrechts iſt auch die der Volksgerichte. — Aber in der weiteren Ent- wicklung der menſchlichen Dinge nehmen die urſpruͤnglich ſo einfachen Verhaͤltniſſe allmaͤlig eine krauſere Geſtalt an; die Rechtsinſtitute bekommen eine Geſchichte; das Volk in ſeiner Geſammtheit verliert die ſichere und unmittelbare Beherrſchung ſeines Rechts, welches in allen Beziehungen nur von denen, die ſich beſonders damit beſchaͤftigen, richtig erkannt und an- gewandt wird. Denn es ſcheiden ſich auch ſchon die Staͤnde,
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Feſtſtellung des Gegenſtandes.
doch iſt auch auf Puchta’s Gewohnheitsrecht (2 Baͤnde, Er-
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darin nicht bloß die v. Savigny’ſchen Anſichten weiter ausge-
fuͤhrt, ſondern auch zum Theil neu und ſelbſtaͤndig begruͤndet
ſind, ſo daß wiederum der erſte Band des Syſtems des heu-
tigen roͤmiſchen Rechts in weſentlichen Puncten darauf beruht.
Stahl iſt in ſeiner Rechtsphiloſophie auf dieſe Seite der Rechts-
lehre weniger ſelbſtaͤndig eingegangen.
Das Recht iſt in ſeiner erſten Entſtehung nicht das Pro-
duct des Zufalls oder der menſchlichen Willkuͤhr, Ueberlegung
und Weisheit; weder die Geſetzgebung, noch die philoſophiſche
Abſtraction hat es geſchaffen. Auf der breiten Baſis allge-
mein menſchlicher Verhaͤltniſſe entwickelt es ſich unmittelbar
im Volksleben, wie die Sitte und die Sprache; es iſt leben-
dig in dem gemeinſamen Bewußtſeyn des Volkes, von deſſen
individueller Beſchaffenheit es auch ſeinen beſonderen Charakter
erhaͤlt. Die einfachen Zuſtaͤnde, in denen ſich die Voͤlker in
ihrer Jugendzeit finden, geſtatten eine ſolche unmittelbare An-
ſchauung der Rechtsinſtitute, welche fern von aller bewußten
Reflexion, mit einer gewiſſen Nothwendigkeit das Richtige
trifft, und deswegen eben, wie ein Theil des Volksglaubens,
gleichmaͤßig die Geſammtheit erfuͤllt. Die Zeit des Volksrechts
iſt auch die der Volksgerichte. — Aber in der weiteren Ent-
wicklung der menſchlichen Dinge nehmen die urſpruͤnglich ſo
einfachen Verhaͤltniſſe allmaͤlig eine krauſere Geſtalt an; die
Rechtsinſtitute bekommen eine Geſchichte; das Volk in ſeiner
Geſammtheit verliert die ſichere und unmittelbare Beherrſchung
ſeines Rechts, welches in allen Beziehungen nur von denen,
die ſich beſonders damit beſchaͤftigen, richtig erkannt und an-
gewandt wird. Denn es ſcheiden ſich auch ſchon die Staͤnde,
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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/71>, abgerufen am 18.07.2024.
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