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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Werth des Juristenrechts.
Non puto delinquere eum, qui in dubiis quaestio-
nibus contra fiscum facile responderit.

Die Erklärung dieser Stelle macht keine Schwierigkeit,
wenn man nur dem einfachen Wortsinne folgt, und zugleich
die allgemeine Lage der öffentlichen Verhältnisse zur Kaiserzeit
gehörig berücksichtigt. Die Uebersetzung wird lauten: "Ich
glaube nicht, daß derjenige ein Delict begeht, welcher in zwei-
felhaften Fragen leicht gegen den Fiscus respondirt." Daß
namentlich das Wort delinquere so, wie geschehen, übersetzt
werden muß, wird dadurch, daß zum respondere noch fa-
cile
hinzugefügt worden ist, ganz unzweifelhaft. Aber wie
haben unsere Juristen diese Stelle aufgefaßt? Sie übersetzten
delinquere mit fehlen, und indem sie das respondere auf
gerichtliche Entscheidungen bezogen, bildeten sie daraus die pro-
cessualische Präsumtion: in dubio contra fiscum! wodurch
dessen Privilegien denn allerdings auf gewisse Weise ein Ge-
gengewicht erhielten.

Es ist nun aber noch ein Punct zu berücksichtigen, wel-
cher nicht ohne Einfluß auf das Urtheil seyn kann, welches über
den Werth des Juristenrechts abgegeben wird. Ich habe schon
früher bemerkt, daß die Ueberzeugung der Juristen nicht im-
mer ganz stabil seyn, sondern sich in einer gewissen innern
Bewegung befinden wird, welche denn leicht auch einen Wan-
del im Juristenrecht hervorrufen muß. Dazu kommt, daß
sich jene Ueberzeugung nicht immer zu einer solchen Gleichmä-
ßigkeit und Festigkeit condensirt hat, daß sie genügt, um sichere
positive Rechtsregeln zu begründen, was denn natürlich, wenn
man die Normirung gewisser Verhältnisse von dieser Seite
her erwarten muß, einen Mangel in dem Rechtsmaterial ver-

Werth des Juriſtenrechts.
Non puto delinquere eum, qui in dubiis quaestio-
nibus contra fiscum facile responderit.

Die Erklaͤrung dieſer Stelle macht keine Schwierigkeit,
wenn man nur dem einfachen Wortſinne folgt, und zugleich
die allgemeine Lage der oͤffentlichen Verhaͤltniſſe zur Kaiſerzeit
gehoͤrig beruͤckſichtigt. Die Ueberſetzung wird lauten: „Ich
glaube nicht, daß derjenige ein Delict begeht, welcher in zwei-
felhaften Fragen leicht gegen den Fiscus reſpondirt.“ Daß
namentlich das Wort delinquere ſo, wie geſchehen, uͤberſetzt
werden muß, wird dadurch, daß zum respondere noch fa-
cile
hinzugefuͤgt worden iſt, ganz unzweifelhaft. Aber wie
haben unſere Juriſten dieſe Stelle aufgefaßt? Sie uͤberſetzten
delinquere mit fehlen, und indem ſie das respondere auf
gerichtliche Entſcheidungen bezogen, bildeten ſie daraus die pro-
ceſſualiſche Praͤſumtion: in dubio contra fiscum! wodurch
deſſen Privilegien denn allerdings auf gewiſſe Weiſe ein Ge-
gengewicht erhielten.

Es iſt nun aber noch ein Punct zu beruͤckſichtigen, wel-
cher nicht ohne Einfluß auf das Urtheil ſeyn kann, welches uͤber
den Werth des Juriſtenrechts abgegeben wird. Ich habe ſchon
fruͤher bemerkt, daß die Ueberzeugung der Juriſten nicht im-
mer ganz ſtabil ſeyn, ſondern ſich in einer gewiſſen innern
Bewegung befinden wird, welche denn leicht auch einen Wan-
del im Juriſtenrecht hervorrufen muß. Dazu kommt, daß
ſich jene Ueberzeugung nicht immer zu einer ſolchen Gleichmaͤ-
ßigkeit und Feſtigkeit condenſirt hat, daß ſie genuͤgt, um ſichere
poſitive Rechtsregeln zu begruͤnden, was denn natuͤrlich, wenn
man die Normirung gewiſſer Verhaͤltniſſe von dieſer Seite
her erwarten muß, einen Mangel in dem Rechtsmaterial ver-

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[359/0371] Werth des Juriſtenrechts. Non puto delinquere eum, qui in dubiis quaestio- nibus contra fiscum facile responderit. Die Erklaͤrung dieſer Stelle macht keine Schwierigkeit, wenn man nur dem einfachen Wortſinne folgt, und zugleich die allgemeine Lage der oͤffentlichen Verhaͤltniſſe zur Kaiſerzeit gehoͤrig beruͤckſichtigt. Die Ueberſetzung wird lauten: „Ich glaube nicht, daß derjenige ein Delict begeht, welcher in zwei- felhaften Fragen leicht gegen den Fiscus reſpondirt.“ Daß namentlich das Wort delinquere ſo, wie geſchehen, uͤberſetzt werden muß, wird dadurch, daß zum respondere noch fa- cile hinzugefuͤgt worden iſt, ganz unzweifelhaft. Aber wie haben unſere Juriſten dieſe Stelle aufgefaßt? Sie uͤberſetzten delinquere mit fehlen, und indem ſie das respondere auf gerichtliche Entſcheidungen bezogen, bildeten ſie daraus die pro- ceſſualiſche Praͤſumtion: in dubio contra fiscum! wodurch deſſen Privilegien denn allerdings auf gewiſſe Weiſe ein Ge- gengewicht erhielten. Es iſt nun aber noch ein Punct zu beruͤckſichtigen, wel- cher nicht ohne Einfluß auf das Urtheil ſeyn kann, welches uͤber den Werth des Juriſtenrechts abgegeben wird. Ich habe ſchon fruͤher bemerkt, daß die Ueberzeugung der Juriſten nicht im- mer ganz ſtabil ſeyn, ſondern ſich in einer gewiſſen innern Bewegung befinden wird, welche denn leicht auch einen Wan- del im Juriſtenrecht hervorrufen muß. Dazu kommt, daß ſich jene Ueberzeugung nicht immer zu einer ſolchen Gleichmaͤ- ßigkeit und Feſtigkeit condenſirt hat, daß ſie genuͤgt, um ſichere poſitive Rechtsregeln zu begruͤnden, was denn natuͤrlich, wenn man die Normirung gewiſſer Verhaͤltniſſe von dieſer Seite her erwarten muß, einen Mangel in dem Rechtsmaterial ver-

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/371>, abgerufen am 26.11.2024.