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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Zwölftes Kapitel.
die Mängel seiner Entstehung sofort ansieht, und welches in
seiner positiven Geltung nur die Bedeutung eines Gewohn-
heitsrechts für sich in Anspruch nehmen darf. Von einer Ver-
tretung und Fortbildung des Volksrechts wird hier nur aus-
nahmsweise die Rede seyn können, ja es wird sich bei einer
aufmerksamen Betrachtung zeigen, daß nichts einer nationalen
und lebendigen Rechtsentwicklung feindlicher entgegen tritt, als
ein solches Juristenrecht, dem nur die ganz äußerliche Normi-
rung der Verhältnisse durch eine oberflächliche und leichtsinnige
Gesetzgebung verglichen werden kann. Wo nun überhaupt
jede schöpferische Kraft im Volke abgestorben, und auch keine
Hoffnung mehr vorhanden ist, auf irgend eine Weise eine Re-
generation des öffentlichen Lebens zu beschaffen, da mag es
im Allgemeinen gleichgültig seyn, unter welchen Formen die
altersschwachen Zustände sich hinschleppen, und das dürftige
Maaß ihrer Beurtheilung finden. Allein anders verhält es
sich da, wo es nur darauf ankommt, den Krankheitsstoff, der
sich über einen innerlich noch kräftigen Volksorganismus ver-
breitet hat, auszutreiben, um wieder eine dauernde Gesundheit
herbeizuführen; da ist die Erkenntniß des Uebels schon der erste
Schritt zur Besserung, und die Bekämpfung des krankhaften
Zustandes, auch wenn man sich schon daran gewöhnt hat, ist
eine Pflicht, der weder der Arzt noch der Kranke aus Scheu
vor einer schmerzhaften Operation und einer bitteren Medizin
sich entziehen darf.

Es wird aus verschiedenen Gründen angemessen seyn,
das Gesagte durch eine kurze Betrachtung der römischen Rechts-
geschichte, insofern sie den hier behandelten Gegenstand betrifft,
anschaulicher zu machen. Denn nicht bloß bietet sie im All-
gemeinen ein sehr lehrreiches Beispiel von einer eigenthümli-

Zwoͤlftes Kapitel.
die Maͤngel ſeiner Entſtehung ſofort anſieht, und welches in
ſeiner poſitiven Geltung nur die Bedeutung eines Gewohn-
heitsrechts fuͤr ſich in Anſpruch nehmen darf. Von einer Ver-
tretung und Fortbildung des Volksrechts wird hier nur aus-
nahmsweiſe die Rede ſeyn koͤnnen, ja es wird ſich bei einer
aufmerkſamen Betrachtung zeigen, daß nichts einer nationalen
und lebendigen Rechtsentwicklung feindlicher entgegen tritt, als
ein ſolches Juriſtenrecht, dem nur die ganz aͤußerliche Normi-
rung der Verhaͤltniſſe durch eine oberflaͤchliche und leichtſinnige
Geſetzgebung verglichen werden kann. Wo nun uͤberhaupt
jede ſchoͤpferiſche Kraft im Volke abgeſtorben, und auch keine
Hoffnung mehr vorhanden iſt, auf irgend eine Weiſe eine Re-
generation des oͤffentlichen Lebens zu beſchaffen, da mag es
im Allgemeinen gleichguͤltig ſeyn, unter welchen Formen die
altersſchwachen Zuſtaͤnde ſich hinſchleppen, und das duͤrftige
Maaß ihrer Beurtheilung finden. Allein anders verhaͤlt es
ſich da, wo es nur darauf ankommt, den Krankheitsſtoff, der
ſich uͤber einen innerlich noch kraͤftigen Volksorganismus ver-
breitet hat, auszutreiben, um wieder eine dauernde Geſundheit
herbeizufuͤhren; da iſt die Erkenntniß des Uebels ſchon der erſte
Schritt zur Beſſerung, und die Bekaͤmpfung des krankhaften
Zuſtandes, auch wenn man ſich ſchon daran gewoͤhnt hat, iſt
eine Pflicht, der weder der Arzt noch der Kranke aus Scheu
vor einer ſchmerzhaften Operation und einer bitteren Medizin
ſich entziehen darf.

Es wird aus verſchiedenen Gruͤnden angemeſſen ſeyn,
das Geſagte durch eine kurze Betrachtung der roͤmiſchen Rechts-
geſchichte, inſofern ſie den hier behandelten Gegenſtand betrifft,
anſchaulicher zu machen. Denn nicht bloß bietet ſie im All-
gemeinen ein ſehr lehrreiches Beiſpiel von einer eigenthuͤmli-

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[346/0358] Zwoͤlftes Kapitel. die Maͤngel ſeiner Entſtehung ſofort anſieht, und welches in ſeiner poſitiven Geltung nur die Bedeutung eines Gewohn- heitsrechts fuͤr ſich in Anſpruch nehmen darf. Von einer Ver- tretung und Fortbildung des Volksrechts wird hier nur aus- nahmsweiſe die Rede ſeyn koͤnnen, ja es wird ſich bei einer aufmerkſamen Betrachtung zeigen, daß nichts einer nationalen und lebendigen Rechtsentwicklung feindlicher entgegen tritt, als ein ſolches Juriſtenrecht, dem nur die ganz aͤußerliche Normi- rung der Verhaͤltniſſe durch eine oberflaͤchliche und leichtſinnige Geſetzgebung verglichen werden kann. Wo nun uͤberhaupt jede ſchoͤpferiſche Kraft im Volke abgeſtorben, und auch keine Hoffnung mehr vorhanden iſt, auf irgend eine Weiſe eine Re- generation des oͤffentlichen Lebens zu beſchaffen, da mag es im Allgemeinen gleichguͤltig ſeyn, unter welchen Formen die altersſchwachen Zuſtaͤnde ſich hinſchleppen, und das duͤrftige Maaß ihrer Beurtheilung finden. Allein anders verhaͤlt es ſich da, wo es nur darauf ankommt, den Krankheitsſtoff, der ſich uͤber einen innerlich noch kraͤftigen Volksorganismus ver- breitet hat, auszutreiben, um wieder eine dauernde Geſundheit herbeizufuͤhren; da iſt die Erkenntniß des Uebels ſchon der erſte Schritt zur Beſſerung, und die Bekaͤmpfung des krankhaften Zuſtandes, auch wenn man ſich ſchon daran gewoͤhnt hat, iſt eine Pflicht, der weder der Arzt noch der Kranke aus Scheu vor einer ſchmerzhaften Operation und einer bitteren Medizin ſich entziehen darf. Es wird aus verſchiedenen Gruͤnden angemeſſen ſeyn, das Geſagte durch eine kurze Betrachtung der roͤmiſchen Rechts- geſchichte, inſofern ſie den hier behandelten Gegenſtand betrifft, anſchaulicher zu machen. Denn nicht bloß bietet ſie im All- gemeinen ein ſehr lehrreiches Beiſpiel von einer eigenthuͤmli-

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/358>, abgerufen am 28.11.2024.