Inhalt der Carolina für das heutige gemeine Criminalrecht übrig? Die Juristen haben sich dabei nun theils durch eine umfassendere Benutzung des römischen Rechts geholfen, welches ihnen besonders für die Feststellung der einzelnen Verbrechen einen Anhalt gab; theils haben sie durch eine philosophische Betrachtung der menschlichen Dinge allgemeine Principien zu gewinnen gesucht, und endlich bei der Abwägung der Strafen nach ihrer Beschaffenheit und ihrem Maaße die Ansichten und socialen Verhältnisse des modernen Lebens zu Rathe gezogen.
3. Der Proceß.
Der deutsche Civil- und Criminalproceß ist fast reines Juristenrecht; auch die einzelnen Bestimmungen der Reichs- gesetze haben demselben mehr einen Anhalt für die weitere Ent- wicklung, als einen festen legislativen Kern geboten. Man stelle einmal genau zusammen, was sie in Verbindung mit dem römischen und canonischen Recht an positiven, unmittel- bar geltenden Rechtssatzungen an den heutigen Proceß abge- geben haben, und man wird sich bald überzeugen, daß in diesem Material nicht einmal das Gerippe, geschweige denn der ganze Bau desselben enthalten ist. Das bezieht sich aber nicht bloß auf die ganze Anlage und Ausführung des Werkes, sondern geht auch bei wichtigen Lehren bis in das geringste De- tail herunter; man nehme nur den Concursproceß und die Unterscheidung der General- und Specialinquisition im Crimi- nalverfahren. Daß aber diese fast absolute Geltung des Ju- ristenrechts gerade in diesem Rechtstheile so oft hat verkannt werden können, erklärt sich wohl zur Genüge aus dem Um- stande, daß er mehr in der stille wirkenden Kraft der Praxis, als in der leichter erkennbaren Thätigkeit der Theorie seine
Beseler, Volksrecht. 22
Umfang der Geltung des Juriſtenrechts.
Inhalt der Carolina fuͤr das heutige gemeine Criminalrecht uͤbrig? Die Juriſten haben ſich dabei nun theils durch eine umfaſſendere Benutzung des roͤmiſchen Rechts geholfen, welches ihnen beſonders fuͤr die Feſtſtellung der einzelnen Verbrechen einen Anhalt gab; theils haben ſie durch eine philoſophiſche Betrachtung der menſchlichen Dinge allgemeine Principien zu gewinnen geſucht, und endlich bei der Abwaͤgung der Strafen nach ihrer Beſchaffenheit und ihrem Maaße die Anſichten und ſocialen Verhaͤltniſſe des modernen Lebens zu Rathe gezogen.
3. Der Proceß.
Der deutſche Civil- und Criminalproceß iſt faſt reines Juriſtenrecht; auch die einzelnen Beſtimmungen der Reichs- geſetze haben demſelben mehr einen Anhalt fuͤr die weitere Ent- wicklung, als einen feſten legislativen Kern geboten. Man ſtelle einmal genau zuſammen, was ſie in Verbindung mit dem roͤmiſchen und canoniſchen Recht an poſitiven, unmittel- bar geltenden Rechtsſatzungen an den heutigen Proceß abge- geben haben, und man wird ſich bald uͤberzeugen, daß in dieſem Material nicht einmal das Gerippe, geſchweige denn der ganze Bau deſſelben enthalten iſt. Das bezieht ſich aber nicht bloß auf die ganze Anlage und Ausfuͤhrung des Werkes, ſondern geht auch bei wichtigen Lehren bis in das geringſte De- tail herunter; man nehme nur den Concursproceß und die Unterſcheidung der General- und Specialinquiſition im Crimi- nalverfahren. Daß aber dieſe faſt abſolute Geltung des Ju- riſtenrechts gerade in dieſem Rechtstheile ſo oft hat verkannt werden koͤnnen, erklaͤrt ſich wohl zur Genuͤge aus dem Um- ſtande, daß er mehr in der ſtille wirkenden Kraft der Praxis, als in der leichter erkennbaren Thaͤtigkeit der Theorie ſeine
Beſeler, Volksrecht. 22
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Umfang der Geltung des Juriſtenrechts.
Inhalt der Carolina fuͤr das heutige gemeine Criminalrecht
uͤbrig? Die Juriſten haben ſich dabei nun theils durch eine
umfaſſendere Benutzung des roͤmiſchen Rechts geholfen, welches
ihnen beſonders fuͤr die Feſtſtellung der einzelnen Verbrechen
einen Anhalt gab; theils haben ſie durch eine philoſophiſche
Betrachtung der menſchlichen Dinge allgemeine Principien zu
gewinnen geſucht, und endlich bei der Abwaͤgung der Strafen
nach ihrer Beſchaffenheit und ihrem Maaße die Anſichten und
ſocialen Verhaͤltniſſe des modernen Lebens zu Rathe gezogen.
3. Der Proceß.
Der deutſche Civil- und Criminalproceß iſt faſt reines
Juriſtenrecht; auch die einzelnen Beſtimmungen der Reichs-
geſetze haben demſelben mehr einen Anhalt fuͤr die weitere Ent-
wicklung, als einen feſten legislativen Kern geboten. Man
ſtelle einmal genau zuſammen, was ſie in Verbindung mit
dem roͤmiſchen und canoniſchen Recht an poſitiven, unmittel-
bar geltenden Rechtsſatzungen an den heutigen Proceß abge-
geben haben, und man wird ſich bald uͤberzeugen, daß in
dieſem Material nicht einmal das Gerippe, geſchweige denn
der ganze Bau deſſelben enthalten iſt. Das bezieht ſich aber
nicht bloß auf die ganze Anlage und Ausfuͤhrung des Werkes,
ſondern geht auch bei wichtigen Lehren bis in das geringſte De-
tail herunter; man nehme nur den Concursproceß und die
Unterſcheidung der General- und Specialinquiſition im Crimi-
nalverfahren. Daß aber dieſe faſt abſolute Geltung des Ju-
riſtenrechts gerade in dieſem Rechtstheile ſo oft hat verkannt
werden koͤnnen, erklaͤrt ſich wohl zur Genuͤge aus dem Um-
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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/349>, abgerufen am 22.02.2025.
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