Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Kapitel.
ans Volk, so darf nicht vergessen werden, daß dasselbe bei der
gegenwärtigen Beschaffenheit des ganzen Rechtswesens die ein-
zelnen Institute, die es noch unmittelbar lebendig erhält, nicht
immer mit einem ganz sicheren Tacte beurtheilt; daß hier zu-
weilen Verwechslungen zwischen zufälligen Motiven und der
eigentlichen, in den Verhältnissen ruhenden Rechtsregel vorkom-
men, welche nicht leicht statt finden werden, wenn die Rechts-
übung mit dem Geschäftsleben Hand in Hand geht, und nicht
ausschließlich den geschulten Juristen überlassen ist. Freilich
wird es sich oft herausstellen, daß, wenn der Jurist solche Ver-
wirrung zu finden glaubt, der schlichte Geschäftsmann, wie
man zu sagen pflegt, den Nagel auf den Kopf getroffen hat,
während jener, in seinen angelernten Rechtsbegriffen eingespon-
nen, den innern Zusammenhang der Regel und der thatsächli-
chen Verhältnisse nicht durchschaut. Aber zuweilen liegt auch
die Schuld auf der andern Seite, und es muß in einem sol-
chen Fall gerade die Gewöhnung an die juristische Zergliede-
rung und Deduction den Mann von Fach sicher stellen, daß er
sich nicht zur Annahme eines unbegründeten Rechtssatzes ver-
leiten läßt. Hier die rechte Mitte zwischen Zweifel und Glau-
ben zu halten, ist die Aufgabe des wissenschaftlichen und prac-
tischen Tactes, welcher überhaupt bei einer so freien Thätigkeit,
wie die bezeichnete ist, von bedeutendem Einfluß seyn muß.

Allein auch eine solche Erkundigung im Volke nach den
Rechtsansichten desselben bleibt immer nur eine mittelbare, wenn
auch noch so wichtige Quelle der Erkenntniß. Es wird daher unten
(Kap. 9.) noch besonders zur Frage gestellt werden, ob nicht
durch eine zweckmäßige Umbildung der gegenwärtigen deutschen
Gerichtsverfassung dem Volksrechte eine mehr unmittelbare Ver-
tretung gesichert werden kann. Jedenfalls würde es auch den

Viertes Kapitel.
ans Volk, ſo darf nicht vergeſſen werden, daß daſſelbe bei der
gegenwaͤrtigen Beſchaffenheit des ganzen Rechtsweſens die ein-
zelnen Inſtitute, die es noch unmittelbar lebendig erhaͤlt, nicht
immer mit einem ganz ſicheren Tacte beurtheilt; daß hier zu-
weilen Verwechslungen zwiſchen zufaͤlligen Motiven und der
eigentlichen, in den Verhaͤltniſſen ruhenden Rechtsregel vorkom-
men, welche nicht leicht ſtatt finden werden, wenn die Rechts-
uͤbung mit dem Geſchaͤftsleben Hand in Hand geht, und nicht
ausſchließlich den geſchulten Juriſten uͤberlaſſen iſt. Freilich
wird es ſich oft herausſtellen, daß, wenn der Juriſt ſolche Ver-
wirrung zu finden glaubt, der ſchlichte Geſchaͤftsmann, wie
man zu ſagen pflegt, den Nagel auf den Kopf getroffen hat,
waͤhrend jener, in ſeinen angelernten Rechtsbegriffen eingeſpon-
nen, den innern Zuſammenhang der Regel und der thatſaͤchli-
chen Verhaͤltniſſe nicht durchſchaut. Aber zuweilen liegt auch
die Schuld auf der andern Seite, und es muß in einem ſol-
chen Fall gerade die Gewoͤhnung an die juriſtiſche Zergliede-
rung und Deduction den Mann von Fach ſicher ſtellen, daß er
ſich nicht zur Annahme eines unbegruͤndeten Rechtsſatzes ver-
leiten laͤßt. Hier die rechte Mitte zwiſchen Zweifel und Glau-
ben zu halten, iſt die Aufgabe des wiſſenſchaftlichen und prac-
tiſchen Tactes, welcher uͤberhaupt bei einer ſo freien Thaͤtigkeit,
wie die bezeichnete iſt, von bedeutendem Einfluß ſeyn muß.

Allein auch eine ſolche Erkundigung im Volke nach den
Rechtsanſichten deſſelben bleibt immer nur eine mittelbare, wenn
auch noch ſo wichtige Quelle der Erkenntniß. Es wird daher unten
(Kap. 9.) noch beſonders zur Frage geſtellt werden, ob nicht
durch eine zweckmaͤßige Umbildung der gegenwaͤrtigen deutſchen
Gerichtsverfaſſung dem Volksrechte eine mehr unmittelbare Ver-
tretung geſichert werden kann. Jedenfalls wuͤrde es auch den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0134" n="122"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Viertes Kapitel</hi>.</fw><lb/>
ans Volk, &#x017F;o darf nicht verge&#x017F;&#x017F;en werden, daß da&#x017F;&#x017F;elbe bei der<lb/>
gegenwa&#x0364;rtigen Be&#x017F;chaffenheit des ganzen Rechtswe&#x017F;ens die ein-<lb/>
zelnen In&#x017F;titute, die es noch unmittelbar lebendig erha&#x0364;lt, nicht<lb/>
immer mit einem ganz &#x017F;icheren Tacte beurtheilt; daß hier zu-<lb/>
weilen Verwechslungen zwi&#x017F;chen zufa&#x0364;lligen Motiven und der<lb/>
eigentlichen, in den Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en ruhenden Rechtsregel vorkom-<lb/>
men, welche nicht leicht &#x017F;tatt finden werden, wenn die Rechts-<lb/>
u&#x0364;bung mit dem Ge&#x017F;cha&#x0364;ftsleben Hand in Hand geht, und nicht<lb/>
aus&#x017F;chließlich den ge&#x017F;chulten Juri&#x017F;ten u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t. Freilich<lb/>
wird es &#x017F;ich oft heraus&#x017F;tellen, daß, wenn der Juri&#x017F;t &#x017F;olche Ver-<lb/>
wirrung zu finden glaubt, der &#x017F;chlichte Ge&#x017F;cha&#x0364;ftsmann, wie<lb/>
man zu &#x017F;agen pflegt, den Nagel auf den Kopf getroffen hat,<lb/>
wa&#x0364;hrend jener, in &#x017F;einen angelernten Rechtsbegriffen einge&#x017F;pon-<lb/>
nen, den innern Zu&#x017F;ammenhang der Regel und der that&#x017F;a&#x0364;chli-<lb/>
chen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e nicht durch&#x017F;chaut. Aber zuweilen liegt auch<lb/>
die Schuld auf der andern Seite, und es muß in einem &#x017F;ol-<lb/>
chen Fall gerade die Gewo&#x0364;hnung an die juri&#x017F;ti&#x017F;che Zergliede-<lb/>
rung und Deduction den Mann von Fach &#x017F;icher &#x017F;tellen, daß er<lb/>
&#x017F;ich nicht zur Annahme eines unbegru&#x0364;ndeten Rechts&#x017F;atzes ver-<lb/>
leiten la&#x0364;ßt. Hier die rechte Mitte zwi&#x017F;chen Zweifel und Glau-<lb/>
ben zu halten, i&#x017F;t die Aufgabe des wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen und prac-<lb/>
ti&#x017F;chen Tactes, welcher u&#x0364;berhaupt bei einer &#x017F;o freien Tha&#x0364;tigkeit,<lb/>
wie die bezeichnete i&#x017F;t, von bedeutendem Einfluß &#x017F;eyn muß.</p><lb/>
          <p>Allein auch eine &#x017F;olche Erkundigung im Volke nach den<lb/>
Rechtsan&#x017F;ichten de&#x017F;&#x017F;elben bleibt immer nur eine mittelbare, wenn<lb/>
auch noch &#x017F;o wichtige Quelle der Erkenntniß. Es wird daher unten<lb/>
(Kap. 9.) noch be&#x017F;onders zur Frage ge&#x017F;tellt werden, ob nicht<lb/>
durch eine zweckma&#x0364;ßige Umbildung der gegenwa&#x0364;rtigen deut&#x017F;chen<lb/>
Gerichtsverfa&#x017F;&#x017F;ung dem Volksrechte eine mehr unmittelbare Ver-<lb/>
tretung ge&#x017F;ichert werden kann. Jedenfalls wu&#x0364;rde es auch den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0134] Viertes Kapitel. ans Volk, ſo darf nicht vergeſſen werden, daß daſſelbe bei der gegenwaͤrtigen Beſchaffenheit des ganzen Rechtsweſens die ein- zelnen Inſtitute, die es noch unmittelbar lebendig erhaͤlt, nicht immer mit einem ganz ſicheren Tacte beurtheilt; daß hier zu- weilen Verwechslungen zwiſchen zufaͤlligen Motiven und der eigentlichen, in den Verhaͤltniſſen ruhenden Rechtsregel vorkom- men, welche nicht leicht ſtatt finden werden, wenn die Rechts- uͤbung mit dem Geſchaͤftsleben Hand in Hand geht, und nicht ausſchließlich den geſchulten Juriſten uͤberlaſſen iſt. Freilich wird es ſich oft herausſtellen, daß, wenn der Juriſt ſolche Ver- wirrung zu finden glaubt, der ſchlichte Geſchaͤftsmann, wie man zu ſagen pflegt, den Nagel auf den Kopf getroffen hat, waͤhrend jener, in ſeinen angelernten Rechtsbegriffen eingeſpon- nen, den innern Zuſammenhang der Regel und der thatſaͤchli- chen Verhaͤltniſſe nicht durchſchaut. Aber zuweilen liegt auch die Schuld auf der andern Seite, und es muß in einem ſol- chen Fall gerade die Gewoͤhnung an die juriſtiſche Zergliede- rung und Deduction den Mann von Fach ſicher ſtellen, daß er ſich nicht zur Annahme eines unbegruͤndeten Rechtsſatzes ver- leiten laͤßt. Hier die rechte Mitte zwiſchen Zweifel und Glau- ben zu halten, iſt die Aufgabe des wiſſenſchaftlichen und prac- tiſchen Tactes, welcher uͤberhaupt bei einer ſo freien Thaͤtigkeit, wie die bezeichnete iſt, von bedeutendem Einfluß ſeyn muß. Allein auch eine ſolche Erkundigung im Volke nach den Rechtsanſichten deſſelben bleibt immer nur eine mittelbare, wenn auch noch ſo wichtige Quelle der Erkenntniß. Es wird daher unten (Kap. 9.) noch beſonders zur Frage geſtellt werden, ob nicht durch eine zweckmaͤßige Umbildung der gegenwaͤrtigen deutſchen Gerichtsverfaſſung dem Volksrechte eine mehr unmittelbare Ver- tretung geſichert werden kann. Jedenfalls wuͤrde es auch den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/134
Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/134>, abgerufen am 04.12.2024.