Viertes Kapitel. Erkenntnißquellen des Volksrechts.
Nimmt man das Volksrecht in seiner eigentlichen Bedeutung als das im Volke entstandene und in dessen Bewußtseyn lebende Recht, so kann über die Lösung der Frage, wie es erkannt wird, nicht leicht ein Zweifel bestehen. Das Volk in seiner Gesammtheit oder in seinen engeren Kreisen, wie nun der Um- fang des Rechts sich darstellt, hat von demselben eine unmit- telbare Anschauung, welche in den Zuständen und Verhältnissen des bürgerlichen Lebens die darin enthaltenen rechtlichen Mo- mente erfaßt, und mit jenen zugleich die sie beherrschende Norm kennt und handhabt. Ebenso verhält es sich mit jedem Ein- zelnen, in dessen Bewußtseyn sich vermöge seiner Stellung und seiner Lebens- und Geschäftserfahrung die gemeinsame Rechts- kunde abspiegelt; er bedarf keiner besonderen Mittel, um dazu zu gelangen, sondern es genügt ihm, wenn er sich eben nur seines Zusammenhangs mit der Gesammtheit in dieser Hinsicht sicher ist. Sollte aber jemand, der außerhalb des Volkslebens und der Volksanschauung stände, geneigt seyn, sich die Kenntniß des darin enthaltenen Rechtes zu verschaffen, so würde er ganz nach Art eines Naturforschers zu Werke gehen müssen, indem er auf dem Wege der Beobachtung sich die ihm ursprünglich fremden Zustände aneignete Wie weit ihm dieß gelingen wird,
Viertes Kapitel. Erkenntnißquellen des Volksrechts.
Nimmt man das Volksrecht in ſeiner eigentlichen Bedeutung als das im Volke entſtandene und in deſſen Bewußtſeyn lebende Recht, ſo kann uͤber die Loͤſung der Frage, wie es erkannt wird, nicht leicht ein Zweifel beſtehen. Das Volk in ſeiner Geſammtheit oder in ſeinen engeren Kreiſen, wie nun der Um- fang des Rechts ſich darſtellt, hat von demſelben eine unmit- telbare Anſchauung, welche in den Zuſtaͤnden und Verhaͤltniſſen des buͤrgerlichen Lebens die darin enthaltenen rechtlichen Mo- mente erfaßt, und mit jenen zugleich die ſie beherrſchende Norm kennt und handhabt. Ebenſo verhaͤlt es ſich mit jedem Ein- zelnen, in deſſen Bewußtſeyn ſich vermoͤge ſeiner Stellung und ſeiner Lebens- und Geſchaͤftserfahrung die gemeinſame Rechts- kunde abſpiegelt; er bedarf keiner beſonderen Mittel, um dazu zu gelangen, ſondern es genuͤgt ihm, wenn er ſich eben nur ſeines Zuſammenhangs mit der Geſammtheit in dieſer Hinſicht ſicher iſt. Sollte aber jemand, der außerhalb des Volkslebens und der Volksanſchauung ſtaͤnde, geneigt ſeyn, ſich die Kenntniß des darin enthaltenen Rechtes zu verſchaffen, ſo wuͤrde er ganz nach Art eines Naturforſchers zu Werke gehen muͤſſen, indem er auf dem Wege der Beobachtung ſich die ihm urſpruͤnglich fremden Zuſtaͤnde aneignete Wie weit ihm dieß gelingen wird,
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Viertes Kapitel.
Erkenntnißquellen des Volksrechts.
Nimmt man das Volksrecht in ſeiner eigentlichen Bedeutung
als das im Volke entſtandene und in deſſen Bewußtſeyn lebende
Recht, ſo kann uͤber die Loͤſung der Frage, wie es erkannt
wird, nicht leicht ein Zweifel beſtehen. Das Volk in ſeiner
Geſammtheit oder in ſeinen engeren Kreiſen, wie nun der Um-
fang des Rechts ſich darſtellt, hat von demſelben eine unmit-
telbare Anſchauung, welche in den Zuſtaͤnden und Verhaͤltniſſen
des buͤrgerlichen Lebens die darin enthaltenen rechtlichen Mo-
mente erfaßt, und mit jenen zugleich die ſie beherrſchende Norm
kennt und handhabt. Ebenſo verhaͤlt es ſich mit jedem Ein-
zelnen, in deſſen Bewußtſeyn ſich vermoͤge ſeiner Stellung und
ſeiner Lebens- und Geſchaͤftserfahrung die gemeinſame Rechts-
kunde abſpiegelt; er bedarf keiner beſonderen Mittel, um dazu
zu gelangen, ſondern es genuͤgt ihm, wenn er ſich eben nur
ſeines Zuſammenhangs mit der Geſammtheit in dieſer Hinſicht
ſicher iſt. Sollte aber jemand, der außerhalb des Volkslebens
und der Volksanſchauung ſtaͤnde, geneigt ſeyn, ſich die Kenntniß
des darin enthaltenen Rechtes zu verſchaffen, ſo wuͤrde er ganz
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er auf dem Wege der Beobachtung ſich die ihm urſpruͤnglich
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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. [109]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/121>, abgerufen am 12.12.2024.
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