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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.

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Art. IV.
eine rückwirkende Kraft haben soll. Nur dann ist aus Gründen der
Billigkeit, welche in allen neueren Gesetzgebungen zur Anwendung ge-
kommen sind, eine Ausnahme von der Regel vorgeschrieben, wenn die
vor dem 1. Juli 1851. begangene Handlung h) in dem gegenwärtigen
Strafgesetzbuche mit keiner Strafe oder mit einer gelinderen bedroht ist,
und das soll auch gelten (in dubiis pro reo!), wenn die Zeit der Ver-
übung nicht genau festgestellt werden kann.

Der schwierige Punkt in Betreff dieser Bestimmungen tritt dann
hervor, wenn Zweifel entstehen, welche von den mehreren Strafen für
die mildere zu halten ist, ob die in dem früheren Rechte oder die in
dem Strafgesetzbuch vorgeschriebene. Eine Veranlassung zu solchem Zwei-
fel kann sich aber leicht ergeben, da gerade in Beziehung auf die Straf-
arten sehr wesentliche Aenderungen eingetreten sind, die Zuchthausstrafe
z. B. jetzt eine andere ist wie nach dem früheren Rechte, und die Eh-
renstrafen ganz neu geordnet worden sind.

Ueber diese Frage findet sich im Justiz-Ministerial-Blatt i) auf
Grund einer Entscheidung des Königlichen Ober-Tribunals eine lehr-
reiche Erörterung.

"Einige haben angenommen, daß man die einzelnen Strafarten zu-
nächst von einander sondern, diese gegenseitig abwägen, und dann von
jeder Strafgattung die gelindere anzuwenden habe, so daß es z. B. zu-
lässig sei, die Freiheitsstrafe aus dem neuen und die Ehrenstrafen aus
dem alten Kriminalrecht, -- oder die Geldstrafe aus dem alten und die
zu substituirende Freiheitsstrafe aus dem neuen Strafrechte zu verhän-
gen. -- Eine andere Ansicht geht noch weiter und will, bevor die Ab-
wägung der verschiedenen Strafarten gegen einander statt findet, mit
Rücksicht auf den §. 2. des Strafgesetzbuchs aus den Strafen des neuen
Strafrechts Alles das ausgeschieden haben, was im Vergleich zu den
Strafen des alten Kriminalrechts als neu zu betrachten ist."

"Es war z. B. über einen Angeklagten die Strafe eines zweiten
kleinen gemeinen Diebstahls zu verhängen. Die Freiheitsstrafe des al-
ten Rechts geht von 14 Tagen bis zu 8 Wochen Gefängniß, die des
neuen von 1 Monat bis 71/2 Jahren Gefängniß. Die Ehrenstrafe des
alten Strafrechts besteht der Regel nach in Kokardenverlust und dessen
Folgen, die des neuen in Untersagung der Ausübung der bürgerlichen
Ehrenrechte auf Zeit. Nach der oben zuerst erwähnten Ansicht würde
die Freiheitsstrafe aus dem alten Recht als die geringere zu verhängen

h) In den Fürstenthümern Hohenzollern ist natürlich auch hier der 1. Januar
1852. der entscheidende Zeitpunkt.
i) Jahrgang 1851. S. 275. 276.
39*

Art. IV.
eine rückwirkende Kraft haben ſoll. Nur dann iſt aus Gründen der
Billigkeit, welche in allen neueren Geſetzgebungen zur Anwendung ge-
kommen ſind, eine Ausnahme von der Regel vorgeſchrieben, wenn die
vor dem 1. Juli 1851. begangene Handlung h) in dem gegenwärtigen
Strafgeſetzbuche mit keiner Strafe oder mit einer gelinderen bedroht iſt,
und das ſoll auch gelten (in dubiis pro reo!), wenn die Zeit der Ver-
übung nicht genau feſtgeſtellt werden kann.

Der ſchwierige Punkt in Betreff dieſer Beſtimmungen tritt dann
hervor, wenn Zweifel entſtehen, welche von den mehreren Strafen für
die mildere zu halten iſt, ob die in dem früheren Rechte oder die in
dem Strafgeſetzbuch vorgeſchriebene. Eine Veranlaſſung zu ſolchem Zwei-
fel kann ſich aber leicht ergeben, da gerade in Beziehung auf die Straf-
arten ſehr weſentliche Aenderungen eingetreten ſind, die Zuchthausſtrafe
z. B. jetzt eine andere iſt wie nach dem früheren Rechte, und die Eh-
renſtrafen ganz neu geordnet worden ſind.

Ueber dieſe Frage findet ſich im Juſtiz-Miniſterial-Blatt i) auf
Grund einer Entſcheidung des Königlichen Ober-Tribunals eine lehr-
reiche Erörterung.

„Einige haben angenommen, daß man die einzelnen Strafarten zu-
nächſt von einander ſondern, dieſe gegenſeitig abwägen, und dann von
jeder Strafgattung die gelindere anzuwenden habe, ſo daß es z. B. zu-
läſſig ſei, die Freiheitsſtrafe aus dem neuen und die Ehrenſtrafen aus
dem alten Kriminalrecht, — oder die Geldſtrafe aus dem alten und die
zu ſubſtituirende Freiheitsſtrafe aus dem neuen Strafrechte zu verhän-
gen. — Eine andere Anſicht geht noch weiter und will, bevor die Ab-
wägung der verſchiedenen Strafarten gegen einander ſtatt findet, mit
Rückſicht auf den §. 2. des Strafgeſetzbuchs aus den Strafen des neuen
Strafrechts Alles das ausgeſchieden haben, was im Vergleich zu den
Strafen des alten Kriminalrechts als neu zu betrachten iſt.“

„Es war z. B. über einen Angeklagten die Strafe eines zweiten
kleinen gemeinen Diebſtahls zu verhängen. Die Freiheitsſtrafe des al-
ten Rechts geht von 14 Tagen bis zu 8 Wochen Gefängniß, die des
neuen von 1 Monat bis 7½ Jahren Gefängniß. Die Ehrenſtrafe des
alten Strafrechts beſteht der Regel nach in Kokardenverluſt und deſſen
Folgen, die des neuen in Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen
Ehrenrechte auf Zeit. Nach der oben zuerſt erwähnten Anſicht würde
die Freiheitsſtrafe aus dem alten Recht als die geringere zu verhängen

h) In den Fürſtenthümern Hohenzollern iſt natürlich auch hier der 1. Januar
1852. der entſcheidende Zeitpunkt.
i) Jahrgang 1851. S. 275. 276.
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[603/0613] Art. IV. eine rückwirkende Kraft haben ſoll. Nur dann iſt aus Gründen der Billigkeit, welche in allen neueren Geſetzgebungen zur Anwendung ge- kommen ſind, eine Ausnahme von der Regel vorgeſchrieben, wenn die vor dem 1. Juli 1851. begangene Handlung h) in dem gegenwärtigen Strafgeſetzbuche mit keiner Strafe oder mit einer gelinderen bedroht iſt, und das ſoll auch gelten (in dubiis pro reo!), wenn die Zeit der Ver- übung nicht genau feſtgeſtellt werden kann. Der ſchwierige Punkt in Betreff dieſer Beſtimmungen tritt dann hervor, wenn Zweifel entſtehen, welche von den mehreren Strafen für die mildere zu halten iſt, ob die in dem früheren Rechte oder die in dem Strafgeſetzbuch vorgeſchriebene. Eine Veranlaſſung zu ſolchem Zwei- fel kann ſich aber leicht ergeben, da gerade in Beziehung auf die Straf- arten ſehr weſentliche Aenderungen eingetreten ſind, die Zuchthausſtrafe z. B. jetzt eine andere iſt wie nach dem früheren Rechte, und die Eh- renſtrafen ganz neu geordnet worden ſind. Ueber dieſe Frage findet ſich im Juſtiz-Miniſterial-Blatt i) auf Grund einer Entſcheidung des Königlichen Ober-Tribunals eine lehr- reiche Erörterung. „Einige haben angenommen, daß man die einzelnen Strafarten zu- nächſt von einander ſondern, dieſe gegenſeitig abwägen, und dann von jeder Strafgattung die gelindere anzuwenden habe, ſo daß es z. B. zu- läſſig ſei, die Freiheitsſtrafe aus dem neuen und die Ehrenſtrafen aus dem alten Kriminalrecht, — oder die Geldſtrafe aus dem alten und die zu ſubſtituirende Freiheitsſtrafe aus dem neuen Strafrechte zu verhän- gen. — Eine andere Anſicht geht noch weiter und will, bevor die Ab- wägung der verſchiedenen Strafarten gegen einander ſtatt findet, mit Rückſicht auf den §. 2. des Strafgeſetzbuchs aus den Strafen des neuen Strafrechts Alles das ausgeſchieden haben, was im Vergleich zu den Strafen des alten Kriminalrechts als neu zu betrachten iſt.“ „Es war z. B. über einen Angeklagten die Strafe eines zweiten kleinen gemeinen Diebſtahls zu verhängen. Die Freiheitsſtrafe des al- ten Rechts geht von 14 Tagen bis zu 8 Wochen Gefängniß, die des neuen von 1 Monat bis 7½ Jahren Gefängniß. Die Ehrenſtrafe des alten Strafrechts beſteht der Regel nach in Kokardenverluſt und deſſen Folgen, die des neuen in Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit. Nach der oben zuerſt erwähnten Anſicht würde die Freiheitsſtrafe aus dem alten Recht als die geringere zu verhängen h) In den Fürſtenthümern Hohenzollern iſt natürlich auch hier der 1. Januar 1852. der entſcheidende Zeitpunkt. i) Jahrgang 1851. S. 275. 276. 39*

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/613>, abgerufen am 24.11.2024.