delt von der Aussetzung der Kinder beim Kindesmord, und faßt das Verbrechen noch enger auf, als das gemeine Recht, indem es nur die Aussetzung durch die Mutter und zwar, wie der Zusammenhang zeigt, des neugeborenen Kindes durch die uneheliche Mutter darunter begreift. Das Strafgesetzbuch dagegen hat nach dem Vorgange anderer Gesetz- gebungen den Thatbestand des Verbrechens sehr weit genommen.
I. Das Verbrechen wird begangen durch "Aussetzen" oder "vor- sätzliches Verlassen in hülfloser Lage." Ersteres bezeichnet ein in be- stimmter Absicht vorgenommenes, vorsätzliches Handeln; es ist ein tech- nischer Ausdruck, der allerdings nur in Beziehung auf neugeborene oder doch noch ganz hülflose Kinder gebraucht zu werden pflegt. Die An- wendung auf Kinder unter sieben Jahren und andere wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit hülflose Personen ist nach dem Vorgange anderer Deutscher Gesetzgebungen geschehen. w) Doch hielt man so sehr an die- ser Erweiterung des Thatbestandes fest, daß selbst der Vorschlag, wie bei dem vorsätzlichen Verlassen nur für den Fall eine Strafbestimmung aufzustellen, wenn die ausgesetzte Person sich unter der Obhut des Thä- ters befinde, abgelehnt wurde, weil doch ein Anderer auch ein Interesse bei der That haben und dieselbe aus Haß und Bosheit begangen wer- den könnte. x)
II. Wenn auch im Allgemeinen anzunehmen ist, daß die Aus- setzung wie das Verlassen in hülfloser Lage besonders deswegen mit Strafe bedroht ist, weil Leben oder Gesundheit eines Menschen dadurch gefährdet wird, so ist dieß doch nicht der einzige Grund der Strafvor- schrift. Die Verletzung der Pflicht zur Obhut und Unterhaltung, der Eigennutz, der sich in einer solchen Handlung aussprechen kann, sind Momente, die auch zu berücksichtigen, und die von der Gesetzgebung be- stimmt ins Auge gefaßt sind. Man erkennt dieß aus den Strafvor- schriften und Zumessungsgründen der älteren Entwürfe, namentlich des von 1843. Hier heißt es:
§. 317. "Wer eine wegen jugendlichen Alters, Krankheit oder Ge- brechlichkeit hülflose Person an einen solchen Ort oder unter solchen Umständen aussetzt, daß die Lebensrettung des Ausgesetzten mit Wahr- scheinlichkeit nicht erwartet werden kann, soll, wenn das Verbrechen in der Absicht zu tödten verübt worden ist, mit den Strafen des vollbrach- ten oder versuchten Mordes belegt werden.
w)Motive zum ersten Entwurf. III. 2. S. 213-16. -- Der Code penal (Art. 149-53.) handelt nur von der Aussetzung von Kindern unter sieben Jahren.
x)Revision von 1845. II. S. 130. -- Verhandlungen der Staats- raths-Kommission von 1846. S. 117. 118. -- Fernere Verhandlungen von 1847. S. 43.
Beseler Kommentar. 24
§. 183. Ausſetzung hülfloſer Perſonen.
delt von der Ausſetzung der Kinder beim Kindesmord, und faßt das Verbrechen noch enger auf, als das gemeine Recht, indem es nur die Ausſetzung durch die Mutter und zwar, wie der Zuſammenhang zeigt, des neugeborenen Kindes durch die uneheliche Mutter darunter begreift. Das Strafgeſetzbuch dagegen hat nach dem Vorgange anderer Geſetz- gebungen den Thatbeſtand des Verbrechens ſehr weit genommen.
I. Das Verbrechen wird begangen durch „Ausſetzen“ oder „vor- ſätzliches Verlaſſen in hülfloſer Lage.“ Erſteres bezeichnet ein in be- ſtimmter Abſicht vorgenommenes, vorſätzliches Handeln; es iſt ein tech- niſcher Ausdruck, der allerdings nur in Beziehung auf neugeborene oder doch noch ganz hülfloſe Kinder gebraucht zu werden pflegt. Die An- wendung auf Kinder unter ſieben Jahren und andere wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit hülfloſe Perſonen iſt nach dem Vorgange anderer Deutſcher Geſetzgebungen geſchehen. w) Doch hielt man ſo ſehr an die- ſer Erweiterung des Thatbeſtandes feſt, daß ſelbſt der Vorſchlag, wie bei dem vorſätzlichen Verlaſſen nur für den Fall eine Strafbeſtimmung aufzuſtellen, wenn die ausgeſetzte Perſon ſich unter der Obhut des Thä- ters befinde, abgelehnt wurde, weil doch ein Anderer auch ein Intereſſe bei der That haben und dieſelbe aus Haß und Bosheit begangen wer- den könnte. x)
II. Wenn auch im Allgemeinen anzunehmen iſt, daß die Aus- ſetzung wie das Verlaſſen in hülfloſer Lage beſonders deswegen mit Strafe bedroht iſt, weil Leben oder Geſundheit eines Menſchen dadurch gefährdet wird, ſo iſt dieß doch nicht der einzige Grund der Strafvor- ſchrift. Die Verletzung der Pflicht zur Obhut und Unterhaltung, der Eigennutz, der ſich in einer ſolchen Handlung ausſprechen kann, ſind Momente, die auch zu berückſichtigen, und die von der Geſetzgebung be- ſtimmt ins Auge gefaßt ſind. Man erkennt dieß aus den Strafvor- ſchriften und Zumeſſungsgründen der älteren Entwürfe, namentlich des von 1843. Hier heißt es:
§. 317. „Wer eine wegen jugendlichen Alters, Krankheit oder Ge- brechlichkeit hülfloſe Perſon an einen ſolchen Ort oder unter ſolchen Umſtänden ausſetzt, daß die Lebensrettung des Ausgeſetzten mit Wahr- ſcheinlichkeit nicht erwartet werden kann, ſoll, wenn das Verbrechen in der Abſicht zu tödten verübt worden iſt, mit den Strafen des vollbrach- ten oder verſuchten Mordes belegt werden.
w)Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 213-16. — Der Code pénal (Art. 149-53.) handelt nur von der Ausſetzung von Kindern unter ſieben Jahren.
x)Reviſion von 1845. II. S. 130. — Verhandlungen der Staats- raths-Kommiſſion von 1846. S. 117. 118. — Fernere Verhandlungen von 1847. S. 43.
Beſeler Kommentar. 24
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delt von der Ausſetzung der Kinder beim Kindesmord, und faßt das
Verbrechen noch enger auf, als das gemeine Recht, indem es nur die
Ausſetzung durch die Mutter und zwar, wie der Zuſammenhang zeigt,
des neugeborenen Kindes durch die uneheliche Mutter darunter begreift.
Das Strafgeſetzbuch dagegen hat nach dem Vorgange anderer Geſetz-
gebungen den Thatbeſtand des Verbrechens ſehr weit genommen.
I. Das Verbrechen wird begangen durch „Ausſetzen“ oder „vor-
ſätzliches Verlaſſen in hülfloſer Lage.“ Erſteres bezeichnet ein in be-
ſtimmter Abſicht vorgenommenes, vorſätzliches Handeln; es iſt ein tech-
niſcher Ausdruck, der allerdings nur in Beziehung auf neugeborene oder
doch noch ganz hülfloſe Kinder gebraucht zu werden pflegt. Die An-
wendung auf Kinder unter ſieben Jahren und andere wegen Krankheit
oder Gebrechlichkeit hülfloſe Perſonen iſt nach dem Vorgange anderer
Deutſcher Geſetzgebungen geſchehen. w) Doch hielt man ſo ſehr an die-
ſer Erweiterung des Thatbeſtandes feſt, daß ſelbſt der Vorſchlag, wie
bei dem vorſätzlichen Verlaſſen nur für den Fall eine Strafbeſtimmung
aufzuſtellen, wenn die ausgeſetzte Perſon ſich unter der Obhut des Thä-
ters befinde, abgelehnt wurde, weil doch ein Anderer auch ein Intereſſe
bei der That haben und dieſelbe aus Haß und Bosheit begangen wer-
den könnte. x)
II. Wenn auch im Allgemeinen anzunehmen iſt, daß die Aus-
ſetzung wie das Verlaſſen in hülfloſer Lage beſonders deswegen mit
Strafe bedroht iſt, weil Leben oder Geſundheit eines Menſchen dadurch
gefährdet wird, ſo iſt dieß doch nicht der einzige Grund der Strafvor-
ſchrift. Die Verletzung der Pflicht zur Obhut und Unterhaltung, der
Eigennutz, der ſich in einer ſolchen Handlung ausſprechen kann, ſind
Momente, die auch zu berückſichtigen, und die von der Geſetzgebung be-
ſtimmt ins Auge gefaßt ſind. Man erkennt dieß aus den Strafvor-
ſchriften und Zumeſſungsgründen der älteren Entwürfe, namentlich des
von 1843. Hier heißt es:
§. 317. „Wer eine wegen jugendlichen Alters, Krankheit oder Ge-
brechlichkeit hülfloſe Perſon an einen ſolchen Ort oder unter ſolchen
Umſtänden ausſetzt, daß die Lebensrettung des Ausgeſetzten mit Wahr-
ſcheinlichkeit nicht erwartet werden kann, ſoll, wenn das Verbrechen in
der Abſicht zu tödten verübt worden iſt, mit den Strafen des vollbrach-
ten oder verſuchten Mordes belegt werden.
w) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 213-16. — Der Code
pénal (Art. 149-53.) handelt nur von der Ausſetzung von Kindern unter ſieben
Jahren.
x) Reviſion von 1845. II. S. 130. — Verhandlungen der Staats-
raths-Kommiſſion von 1846. S. 117. 118. — Fernere Verhandlungen
von 1847. S. 43.
Beſeler Kommentar. 24
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/371>, abgerufen am 16.02.2025.
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