Th. II. V. d. einzelnen Verbr. etc. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.
dolose Bigamie unter Strafe stellen müsse, da die allgemeinen Bestim- mungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit jetzt weggelassen seien. Dagegen aber bemerkte nun der Regierungs-Kommissar:
"Man muß hier mit der Fassung sehr vorsichtig sein, denn es muß die Bestrafung auch eintreten, wenn Jemand es darauf ankommen läßt, ob die Ehe bereits wirklich aufgelöst ist. Beispielsweise sind nach dem Russischen Feldzuge Fälle vorgekommen, wo die zurückgelassenen Ehe- frauen von Militairpersonen in der unbegründeten Voraussetzung, daß ihre Ehemänner um's Leben gekommen seien, sich anderweit verheirathet hatten, ohne sich vorher darüber zu vergewissern, daß die Ehe durch den Tod des anderen Ehegatten wirklich getrennt sei. Solche Fälle der leichtsinnigen Eingehung der zweiten Ehe muß man hier mit bestrafen, und deshalb kann man nicht als Bedingung des Verbrechens hinstellen, daß der Ehegatte positiv gewußt haben müsse, daß die Ehe noch bestehe; es würde der Begriff des Verbrechens zu sehr beengt werden." d)
Diese Argumentation ist beinahe wörtlich in die Motive zu dem Entwurf von 1850. übergegangen; auch die Kommission der ersten Kammer hat sich ihr angeschlossen, indem sie nur "wegen völlig schuld- loser thatsächlicher Nichtkenntniß der früheren Ehe oder ihres Fortbe- standes" Straflosigkeit eintreten läßt. Es liege hierbei die Ansicht zum Grunde, daß der Charakter des Verbrechens der mehrfachen Ehe theils Nichtachtung noch bestehender Rechte eines Ehegatten, theils Mißbrauch öffentlicher Formen, die zur Sicherstellung eines von Kirche und Staat geheiligten Verhältnisses dienen sollen, endlich auch Gleichgültigkeit gegen dieses selbst sei. In diesem Falle befinde sich aber nicht allein derjenige, welcher bestimmt wisse, daß sein bisheriges Eheband noch nicht auf- gelöset sei, sondern auch derjenige, welcher Zweifel darüber, d. h. Gründe habe, sein Eheband für aufgelöset zu halten, dennoch aber unterlasse, sich darüber die nöthigen Aufklärungen zu verschaffen oder die gesetzlichen Formen zum Zweck einer Ledigkeitserklärung zu beobachten, und somit leichtsinnig zu einer anderen Ehe schreite. e)
Der Bericht der Kommission der zweiten Kammer stimmt mit dieser Ausführung im Wesentlichen überein, sucht aber doch darzuthun, daß es sich nach dem Sinn der Strafvorschrift nicht von einer kulposen Bigamie handle; der Bigamus sei sich dessen bewußt, daß er den Nach- weis der Auflösung der ersten Ehe nicht führen könne; er lasse es aber darauf ankommen, gehe leichtsinnig eine zweite Ehe ein. Jenes Bewußt- sein müsse vorausgesetzt werden, nicht aber der böse Vorsatz in dem
d)Verhandlungen des vereinigten ständischen Ausschusses. III. S. 458. 459.
e)Bericht der Kommission der ersten Kammer zu §. 139.
Th. II. V. d. einzelnen Verbr. ꝛc. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.
doloſe Bigamie unter Strafe ſtellen müſſe, da die allgemeinen Beſtim- mungen über Vorſatz und Fahrläſſigkeit jetzt weggelaſſen ſeien. Dagegen aber bemerkte nun der Regierungs-Kommiſſar:
„Man muß hier mit der Faſſung ſehr vorſichtig ſein, denn es muß die Beſtrafung auch eintreten, wenn Jemand es darauf ankommen läßt, ob die Ehe bereits wirklich aufgelöſt iſt. Beiſpielsweiſe ſind nach dem Ruſſiſchen Feldzuge Fälle vorgekommen, wo die zurückgelaſſenen Ehe- frauen von Militairperſonen in der unbegründeten Vorausſetzung, daß ihre Ehemänner um's Leben gekommen ſeien, ſich anderweit verheirathet hatten, ohne ſich vorher darüber zu vergewiſſern, daß die Ehe durch den Tod des anderen Ehegatten wirklich getrennt ſei. Solche Fälle der leichtſinnigen Eingehung der zweiten Ehe muß man hier mit beſtrafen, und deshalb kann man nicht als Bedingung des Verbrechens hinſtellen, daß der Ehegatte poſitiv gewußt haben müſſe, daß die Ehe noch beſtehe; es würde der Begriff des Verbrechens zu ſehr beengt werden.“ d)
Dieſe Argumentation iſt beinahe wörtlich in die Motive zu dem Entwurf von 1850. übergegangen; auch die Kommiſſion der erſten Kammer hat ſich ihr angeſchloſſen, indem ſie nur „wegen völlig ſchuld- loſer thatſächlicher Nichtkenntniß der früheren Ehe oder ihres Fortbe- ſtandes“ Strafloſigkeit eintreten läßt. Es liege hierbei die Anſicht zum Grunde, daß der Charakter des Verbrechens der mehrfachen Ehe theils Nichtachtung noch beſtehender Rechte eines Ehegatten, theils Mißbrauch öffentlicher Formen, die zur Sicherſtellung eines von Kirche und Staat geheiligten Verhältniſſes dienen ſollen, endlich auch Gleichgültigkeit gegen dieſes ſelbſt ſei. In dieſem Falle befinde ſich aber nicht allein derjenige, welcher beſtimmt wiſſe, daß ſein bisheriges Eheband noch nicht auf- gelöſet ſei, ſondern auch derjenige, welcher Zweifel darüber, d. h. Gründe habe, ſein Eheband für aufgelöſet zu halten, dennoch aber unterlaſſe, ſich darüber die nöthigen Aufklärungen zu verſchaffen oder die geſetzlichen Formen zum Zweck einer Ledigkeitserklärung zu beobachten, und ſomit leichtſinnig zu einer anderen Ehe ſchreite. e)
Der Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer ſtimmt mit dieſer Ausführung im Weſentlichen überein, ſucht aber doch darzuthun, daß es ſich nach dem Sinn der Strafvorſchrift nicht von einer kulpoſen Bigamie handle; der Bigamus ſei ſich deſſen bewußt, daß er den Nach- weis der Auflöſung der erſten Ehe nicht führen könne; er laſſe es aber darauf ankommen, gehe leichtſinnig eine zweite Ehe ein. Jenes Bewußt- ſein müſſe vorausgeſetzt werden, nicht aber der böſe Vorſatz in dem
d)Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III. S. 458. 459.
e)Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 139.
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doloſe Bigamie unter Strafe ſtellen müſſe, da die allgemeinen Beſtim-
mungen über Vorſatz und Fahrläſſigkeit jetzt weggelaſſen ſeien. Dagegen
aber bemerkte nun der Regierungs-Kommiſſar:
„Man muß hier mit der Faſſung ſehr vorſichtig ſein, denn es muß
die Beſtrafung auch eintreten, wenn Jemand es darauf ankommen läßt,
ob die Ehe bereits wirklich aufgelöſt iſt. Beiſpielsweiſe ſind nach dem
Ruſſiſchen Feldzuge Fälle vorgekommen, wo die zurückgelaſſenen Ehe-
frauen von Militairperſonen in der unbegründeten Vorausſetzung, daß
ihre Ehemänner um's Leben gekommen ſeien, ſich anderweit verheirathet
hatten, ohne ſich vorher darüber zu vergewiſſern, daß die Ehe durch den
Tod des anderen Ehegatten wirklich getrennt ſei. Solche Fälle der
leichtſinnigen Eingehung der zweiten Ehe muß man hier mit beſtrafen,
und deshalb kann man nicht als Bedingung des Verbrechens hinſtellen,
daß der Ehegatte poſitiv gewußt haben müſſe, daß die Ehe noch beſtehe;
es würde der Begriff des Verbrechens zu ſehr beengt werden.“ d)
Dieſe Argumentation iſt beinahe wörtlich in die Motive zu dem
Entwurf von 1850. übergegangen; auch die Kommiſſion der erſten
Kammer hat ſich ihr angeſchloſſen, indem ſie nur „wegen völlig ſchuld-
loſer thatſächlicher Nichtkenntniß der früheren Ehe oder ihres Fortbe-
ſtandes“ Strafloſigkeit eintreten läßt. Es liege hierbei die Anſicht zum
Grunde, daß der Charakter des Verbrechens der mehrfachen Ehe theils
Nichtachtung noch beſtehender Rechte eines Ehegatten, theils Mißbrauch
öffentlicher Formen, die zur Sicherſtellung eines von Kirche und Staat
geheiligten Verhältniſſes dienen ſollen, endlich auch Gleichgültigkeit gegen
dieſes ſelbſt ſei. In dieſem Falle befinde ſich aber nicht allein derjenige,
welcher beſtimmt wiſſe, daß ſein bisheriges Eheband noch nicht auf-
gelöſet ſei, ſondern auch derjenige, welcher Zweifel darüber, d. h. Gründe
habe, ſein Eheband für aufgelöſet zu halten, dennoch aber unterlaſſe,
ſich darüber die nöthigen Aufklärungen zu verſchaffen oder die geſetzlichen
Formen zum Zweck einer Ledigkeitserklärung zu beobachten, und ſomit
leichtſinnig zu einer anderen Ehe ſchreite. e)
Der Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer ſtimmt mit dieſer
Ausführung im Weſentlichen überein, ſucht aber doch darzuthun, daß
es ſich nach dem Sinn der Strafvorſchrift nicht von einer kulpoſen
Bigamie handle; der Bigamus ſei ſich deſſen bewußt, daß er den Nach-
weis der Auflöſung der erſten Ehe nicht führen könne; er laſſe es aber
darauf ankommen, gehe leichtſinnig eine zweite Ehe ein. Jenes Bewußt-
ſein müſſe vorausgeſetzt werden, nicht aber der böſe Vorſatz in dem
d) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III.
S. 458. 459.
e) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 139.
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/316>, abgerufen am 24.11.2024.
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