"Zunächst würden durch die Fassung des Entwurfs zwei Handlun- gen unter Strafe gestellt, welche durchaus nichts Strafbares enthalten, und auch nach der Absicht des Entwurfs nicht strafbar sein sollten: nämlich erstens die juristische Untersuchung über die Frage, ob eine ge- wisse Handlung strafbar sei oder nicht, falls diese Untersuchung des Einzelnen in das Resultat auslaufe, daß eine Handlung nach den Ge- setzen erlaubt sei, während etwa der Staatsanwalt oder der erkennende Richter der entgegengesetzten Ansicht seien. -- Sodann zweitens jede wissenschaftliche Arbeit, welche etwa vom kriminalpolitischen, religiösen, nationalökonomischen oder sozialen Standpunkte aus den Beweis zu führen versuche, daß diese oder jene, im Strafrecht unbestrittenermaaßen verpönte Handlung, z. B. das Duell, der Wucher, nach richtigen Grund- sätzen nicht strafbar, sondern erlaubt sein müßte."
"Sobald eine solche kritische Untersuchung die Wendung nehme, den Staatsangehörigen anzurathen, jene Handlungen trotz dem, daß sie durch das positive Strafrecht verboten seien, dennoch zu verüben, also das eigentliche Feld der Kritik verlasse, falle sie in die Kategorie von Auf- forderungen zum Ungehorsam gegen die Gesetze und sei als solche straf- bar. Hierüber hinaus jede solche kritische Untersuchung, welche sich von einer Aufforderung zur praktischen Anwendung der entwickelten Grund- sätze noch so ferne halte, unter Strafe zu stellen, sei mit den Forderun- gen freier Diskussion absolut unvereinbar. -- Nur das erkannte die Kommission mit Rücksicht namentlich auf die moderne sozialistische Lite- ratur an, daß zwischen der Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Gesetze und der rein theoretischen Kritik der durch strafrechtliche Bestim- mungen geschützten gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen noch Etwas in der Mitte liege, welches dem öffentlichen Frieden hohe Ge- fahr bringen könne. Es seien dieß jene Reden oder Schriften, welche ohne bloß in verständiger Weise Kritik zu üben, und ohne auf der an- dern Seite direkt zu ungesetzlichen Handeln aufzufordern, sich an das Gefühl und die Leidenschaften wenden, und in Formen, welche denen der wissenschaftlichen Untersuchung durchaus fern liegen, Handlungen, die das Strafrecht verpönt, nicht nur als erlaubt rechtfertigen, sondern ge- radezu durch Lobreden verherrlichen."
"Ohne die freie Diskussion ungebührlich einengen zu wollen, müsse man doch dem im Staate geltenden positiven Strafrechte, selbst in den Punkten, wo es wirklich mit einer weiteren Entwicklung in Konflikt komme, diejenige Achtung sichern, mit welcher eine öffentliche Anpreisung der strafbaren Handlungen nicht vereinbar sei. Auf dieses Verbot der Lobrede und des Anpreisens sei daher der Entwurf um so mehr zu be- schränken, als die vorigjährige zur Prüfung der Preßverordnung nieder-
§§. 87. 88. Aufforderung zum Ungehorſam.
„Zunächſt würden durch die Faſſung des Entwurfs zwei Handlun- gen unter Strafe geſtellt, welche durchaus nichts Strafbares enthalten, und auch nach der Abſicht des Entwurfs nicht ſtrafbar ſein ſollten: nämlich erſtens die juriſtiſche Unterſuchung über die Frage, ob eine ge- wiſſe Handlung ſtrafbar ſei oder nicht, falls dieſe Unterſuchung des Einzelnen in das Reſultat auslaufe, daß eine Handlung nach den Ge- ſetzen erlaubt ſei, während etwa der Staatsanwalt oder der erkennende Richter der entgegengeſetzten Anſicht ſeien. — Sodann zweitens jede wiſſenſchaftliche Arbeit, welche etwa vom kriminalpolitiſchen, religiöſen, nationalökonomiſchen oder ſozialen Standpunkte aus den Beweis zu führen verſuche, daß dieſe oder jene, im Strafrecht unbeſtrittenermaaßen verpönte Handlung, z. B. das Duell, der Wucher, nach richtigen Grund- ſätzen nicht ſtrafbar, ſondern erlaubt ſein müßte.“
„Sobald eine ſolche kritiſche Unterſuchung die Wendung nehme, den Staatsangehörigen anzurathen, jene Handlungen trotz dem, daß ſie durch das poſitive Strafrecht verboten ſeien, dennoch zu verüben, alſo das eigentliche Feld der Kritik verlaſſe, falle ſie in die Kategorie von Auf- forderungen zum Ungehorſam gegen die Geſetze und ſei als ſolche ſtraf- bar. Hierüber hinaus jede ſolche kritiſche Unterſuchung, welche ſich von einer Aufforderung zur praktiſchen Anwendung der entwickelten Grund- ſätze noch ſo ferne halte, unter Strafe zu ſtellen, ſei mit den Forderun- gen freier Diskuſſion abſolut unvereinbar. — Nur das erkannte die Kommiſſion mit Rückſicht namentlich auf die moderne ſozialiſtiſche Lite- ratur an, daß zwiſchen der Aufforderung zum Ungehorſam gegen die Geſetze und der rein theoretiſchen Kritik der durch ſtrafrechtliche Beſtim- mungen geſchützten geſellſchaftlichen und ſtaatlichen Inſtitutionen noch Etwas in der Mitte liege, welches dem öffentlichen Frieden hohe Ge- fahr bringen könne. Es ſeien dieß jene Reden oder Schriften, welche ohne bloß in verſtändiger Weiſe Kritik zu üben, und ohne auf der an- dern Seite direkt zu ungeſetzlichen Handeln aufzufordern, ſich an das Gefühl und die Leidenſchaften wenden, und in Formen, welche denen der wiſſenſchaftlichen Unterſuchung durchaus fern liegen, Handlungen, die das Strafrecht verpönt, nicht nur als erlaubt rechtfertigen, ſondern ge- radezu durch Lobreden verherrlichen.“
„Ohne die freie Diskuſſion ungebührlich einengen zu wollen, müſſe man doch dem im Staate geltenden poſitiven Strafrechte, ſelbſt in den Punkten, wo es wirklich mit einer weiteren Entwicklung in Konflikt komme, diejenige Achtung ſichern, mit welcher eine öffentliche Anpreiſung der ſtrafbaren Handlungen nicht vereinbar ſei. Auf dieſes Verbot der Lobrede und des Anpreiſens ſei daher der Entwurf um ſo mehr zu be- ſchränken, als die vorigjährige zur Prüfung der Preßverordnung nieder-
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§§. 87. 88. Aufforderung zum Ungehorſam.
„Zunächſt würden durch die Faſſung des Entwurfs zwei Handlun-
gen unter Strafe geſtellt, welche durchaus nichts Strafbares enthalten,
und auch nach der Abſicht des Entwurfs nicht ſtrafbar ſein ſollten:
nämlich erſtens die juriſtiſche Unterſuchung über die Frage, ob eine ge-
wiſſe Handlung ſtrafbar ſei oder nicht, falls dieſe Unterſuchung des
Einzelnen in das Reſultat auslaufe, daß eine Handlung nach den Ge-
ſetzen erlaubt ſei, während etwa der Staatsanwalt oder der erkennende
Richter der entgegengeſetzten Anſicht ſeien. — Sodann zweitens jede
wiſſenſchaftliche Arbeit, welche etwa vom kriminalpolitiſchen, religiöſen,
nationalökonomiſchen oder ſozialen Standpunkte aus den Beweis zu
führen verſuche, daß dieſe oder jene, im Strafrecht unbeſtrittenermaaßen
verpönte Handlung, z. B. das Duell, der Wucher, nach richtigen Grund-
ſätzen nicht ſtrafbar, ſondern erlaubt ſein müßte.“
„Sobald eine ſolche kritiſche Unterſuchung die Wendung nehme, den
Staatsangehörigen anzurathen, jene Handlungen trotz dem, daß ſie durch
das poſitive Strafrecht verboten ſeien, dennoch zu verüben, alſo das
eigentliche Feld der Kritik verlaſſe, falle ſie in die Kategorie von Auf-
forderungen zum Ungehorſam gegen die Geſetze und ſei als ſolche ſtraf-
bar. Hierüber hinaus jede ſolche kritiſche Unterſuchung, welche ſich von
einer Aufforderung zur praktiſchen Anwendung der entwickelten Grund-
ſätze noch ſo ferne halte, unter Strafe zu ſtellen, ſei mit den Forderun-
gen freier Diskuſſion abſolut unvereinbar. — Nur das erkannte die
Kommiſſion mit Rückſicht namentlich auf die moderne ſozialiſtiſche Lite-
ratur an, daß zwiſchen der Aufforderung zum Ungehorſam gegen die
Geſetze und der rein theoretiſchen Kritik der durch ſtrafrechtliche Beſtim-
mungen geſchützten geſellſchaftlichen und ſtaatlichen Inſtitutionen noch
Etwas in der Mitte liege, welches dem öffentlichen Frieden hohe Ge-
fahr bringen könne. Es ſeien dieß jene Reden oder Schriften, welche
ohne bloß in verſtändiger Weiſe Kritik zu üben, und ohne auf der an-
dern Seite direkt zu ungeſetzlichen Handeln aufzufordern, ſich an das
Gefühl und die Leidenſchaften wenden, und in Formen, welche denen der
wiſſenſchaftlichen Unterſuchung durchaus fern liegen, Handlungen, die
das Strafrecht verpönt, nicht nur als erlaubt rechtfertigen, ſondern ge-
radezu durch Lobreden verherrlichen.“
„Ohne die freie Diskuſſion ungebührlich einengen zu wollen, müſſe
man doch dem im Staate geltenden poſitiven Strafrechte, ſelbſt in den
Punkten, wo es wirklich mit einer weiteren Entwicklung in Konflikt
komme, diejenige Achtung ſichern, mit welcher eine öffentliche Anpreiſung
der ſtrafbaren Handlungen nicht vereinbar ſei. Auf dieſes Verbot der
Lobrede und des Anpreiſens ſei daher der Entwurf um ſo mehr zu be-
ſchränken, als die vorigjährige zur Prüfung der Preßverordnung nieder-
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/263>, abgerufen am 24.11.2024.
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