sächlichen Verhältnissen des Staates und des Lebens so wie zu der Rechtserzeugung überhaupt gebracht worden. Die Lehre namentlich, daß es der Gesetzgebung obliege, aus den Abstraktionen des Naturrechts her- aus ein System neuer Rechtssätze und Rechtsinstitute zu schaffen, kann als wissenschaftlich überwunden und als veraltet angesehen werden; aber auch diejenigen, welche der Gegenwart jede Berechtigung zu einer freien Reform unseres krausen Rechtswesens absprechen möchten, stellen sich immer bestimmter als die Anhänger einer politischen Schule dar, deren Ziele und Bestrebungen dem modernen Staatswesen selbst, wie es sich bei uns seit den Zeiten des großen Kurfürsten gestaltet hat, entgegen treten, und mit der wissenschaftlichen Opposition gegen eine oberflächliche Gesetzmacherei nicht verwechselt werden dürfen.
Für Preußen war die Erlassung eines neuen Strafgesetzbuchs eine Nothwendigkeit geworden, weil die verschiedenen Rechtssysteme, welche in der Monarchie zur Anwendung kommen, für diesen Gegenstand einer Reform dringend bedurften, was nicht allein in Beziehung auf das All- gemeine Landrecht und das gemeine deutsche Recht der Fall war, son- dern auch in Beziehung auf das Rheinische Recht, welches abgelöst von der in Frankreich fortschreitenden Rechtsentwicklung und namentlich von dem Gesetze vom 28. April 1832 unberührt, in der starren Strenge der kaiserlichen Strafsatzungen gebunden lag. Die nothwendige Reform aber auf die Revision der verschiedenen Rechtssysteme in ihrer Besonderheit zu beschränken, ward schon damals, als noch die Gerichtsverfassung eine wesentlich verschiedene war, für unzulässig und unpolitisch gehalten, weil es gerade bei dem Strafrecht als einem Theile des öffentlichen Rechts nicht bloß darauf ankommt, die Gebote der Gerechtigkeit in Be- ziehung auf die einzelnen Staatsbürger zu verwirklichen, sondern auch der Staat selbst mit seinen Anforderungen befriedigt werden muß, und die Rechtseinheit sich von der Staatseinheit hier nicht wohl tren- nen läßt. Daß aber das lange und sorgfältig vorbereitete Werk gerade jetzt hat zur Vollendung kommen können, ist um so wichtiger, da die Erfüllung der Hoffnungen auf die Herstellung einer größeren Rechts- gemeinschaft für ganz Deutschland in neuester Zeit wieder in die Ferne gerückt worden ist.
Darf man aber auch die Erlassung eines Strafgesetzbuchs für die Preußische Monarchie als ein unabweisliches Bedürfniß ansehen, dessen Befriedigung von der Staatsgewalt zu erwarten war, so bleibt doch noch die Frage zu beantworten, wie denn diese Aufgabe durch das jetzt vollendete Gesetzbuch gelöst sei; denn nicht jede Neuerung, auch wenn sie an und für sich gerechtfertigt erscheint, ist darum eine Verbesserung. Eine Untersuchung aber, welche sich nach dieser Seite hin richtet, wird
Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.
ſächlichen Verhältniſſen des Staates und des Lebens ſo wie zu der Rechtserzeugung überhaupt gebracht worden. Die Lehre namentlich, daß es der Geſetzgebung obliege, aus den Abſtraktionen des Naturrechts her- aus ein Syſtem neuer Rechtsſätze und Rechtsinſtitute zu ſchaffen, kann als wiſſenſchaftlich überwunden und als veraltet angeſehen werden; aber auch diejenigen, welche der Gegenwart jede Berechtigung zu einer freien Reform unſeres krauſen Rechtsweſens abſprechen möchten, ſtellen ſich immer beſtimmter als die Anhänger einer politiſchen Schule dar, deren Ziele und Beſtrebungen dem modernen Staatsweſen ſelbſt, wie es ſich bei uns ſeit den Zeiten des großen Kurfürſten geſtaltet hat, entgegen treten, und mit der wiſſenſchaftlichen Oppoſition gegen eine oberflächliche Geſetzmacherei nicht verwechſelt werden dürfen.
Für Preußen war die Erlaſſung eines neuen Strafgeſetzbuchs eine Nothwendigkeit geworden, weil die verſchiedenen Rechtsſyſteme, welche in der Monarchie zur Anwendung kommen, für dieſen Gegenſtand einer Reform dringend bedurften, was nicht allein in Beziehung auf das All- gemeine Landrecht und das gemeine deutſche Recht der Fall war, ſon- dern auch in Beziehung auf das Rheiniſche Recht, welches abgelöſt von der in Frankreich fortſchreitenden Rechtsentwicklung und namentlich von dem Geſetze vom 28. April 1832 unberührt, in der ſtarren Strenge der kaiſerlichen Strafſatzungen gebunden lag. Die nothwendige Reform aber auf die Reviſion der verſchiedenen Rechtsſyſteme in ihrer Beſonderheit zu beſchränken, ward ſchon damals, als noch die Gerichtsverfaſſung eine weſentlich verſchiedene war, für unzuläſſig und unpolitiſch gehalten, weil es gerade bei dem Strafrecht als einem Theile des öffentlichen Rechts nicht bloß darauf ankommt, die Gebote der Gerechtigkeit in Be- ziehung auf die einzelnen Staatsbürger zu verwirklichen, ſondern auch der Staat ſelbſt mit ſeinen Anforderungen befriedigt werden muß, und die Rechtseinheit ſich von der Staatseinheit hier nicht wohl tren- nen läßt. Daß aber das lange und ſorgfältig vorbereitete Werk gerade jetzt hat zur Vollendung kommen können, iſt um ſo wichtiger, da die Erfüllung der Hoffnungen auf die Herſtellung einer größeren Rechts- gemeinſchaft für ganz Deutſchland in neueſter Zeit wieder in die Ferne gerückt worden iſt.
Darf man aber auch die Erlaſſung eines Strafgeſetzbuchs für die Preußiſche Monarchie als ein unabweisliches Bedürfniß anſehen, deſſen Befriedigung von der Staatsgewalt zu erwarten war, ſo bleibt doch noch die Frage zu beantworten, wie denn dieſe Aufgabe durch das jetzt vollendete Geſetzbuch gelöſt ſei; denn nicht jede Neuerung, auch wenn ſie an und für ſich gerechtfertigt erſcheint, iſt darum eine Verbeſſerung. Eine Unterſuchung aber, welche ſich nach dieſer Seite hin richtet, wird
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[16/0026]
Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.
ſächlichen Verhältniſſen des Staates und des Lebens ſo wie zu der
Rechtserzeugung überhaupt gebracht worden. Die Lehre namentlich, daß
es der Geſetzgebung obliege, aus den Abſtraktionen des Naturrechts her-
aus ein Syſtem neuer Rechtsſätze und Rechtsinſtitute zu ſchaffen, kann
als wiſſenſchaftlich überwunden und als veraltet angeſehen werden; aber
auch diejenigen, welche der Gegenwart jede Berechtigung zu einer freien
Reform unſeres krauſen Rechtsweſens abſprechen möchten, ſtellen ſich
immer beſtimmter als die Anhänger einer politiſchen Schule dar, deren
Ziele und Beſtrebungen dem modernen Staatsweſen ſelbſt, wie es ſich
bei uns ſeit den Zeiten des großen Kurfürſten geſtaltet hat, entgegen
treten, und mit der wiſſenſchaftlichen Oppoſition gegen eine oberflächliche
Geſetzmacherei nicht verwechſelt werden dürfen.
Für Preußen war die Erlaſſung eines neuen Strafgeſetzbuchs eine
Nothwendigkeit geworden, weil die verſchiedenen Rechtsſyſteme, welche
in der Monarchie zur Anwendung kommen, für dieſen Gegenſtand einer
Reform dringend bedurften, was nicht allein in Beziehung auf das All-
gemeine Landrecht und das gemeine deutſche Recht der Fall war, ſon-
dern auch in Beziehung auf das Rheiniſche Recht, welches abgelöſt von
der in Frankreich fortſchreitenden Rechtsentwicklung und namentlich von
dem Geſetze vom 28. April 1832 unberührt, in der ſtarren Strenge der
kaiſerlichen Strafſatzungen gebunden lag. Die nothwendige Reform aber
auf die Reviſion der verſchiedenen Rechtsſyſteme in ihrer Beſonderheit
zu beſchränken, ward ſchon damals, als noch die Gerichtsverfaſſung
eine weſentlich verſchiedene war, für unzuläſſig und unpolitiſch gehalten,
weil es gerade bei dem Strafrecht als einem Theile des öffentlichen
Rechts nicht bloß darauf ankommt, die Gebote der Gerechtigkeit in Be-
ziehung auf die einzelnen Staatsbürger zu verwirklichen, ſondern auch
der Staat ſelbſt mit ſeinen Anforderungen befriedigt werden muß, und
die Rechtseinheit ſich von der Staatseinheit hier nicht wohl tren-
nen läßt. Daß aber das lange und ſorgfältig vorbereitete Werk gerade
jetzt hat zur Vollendung kommen können, iſt um ſo wichtiger, da die
Erfüllung der Hoffnungen auf die Herſtellung einer größeren Rechts-
gemeinſchaft für ganz Deutſchland in neueſter Zeit wieder in die Ferne
gerückt worden iſt.
Darf man aber auch die Erlaſſung eines Strafgeſetzbuchs für die
Preußiſche Monarchie als ein unabweisliches Bedürfniß anſehen, deſſen
Befriedigung von der Staatsgewalt zu erwarten war, ſo bleibt doch
noch die Frage zu beantworten, wie denn dieſe Aufgabe durch das jetzt
vollendete Geſetzbuch gelöſt ſei; denn nicht jede Neuerung, auch wenn
ſie an und für ſich gerechtfertigt erſcheint, iſt darum eine Verbeſſerung.
Eine Unterſuchung aber, welche ſich nach dieſer Seite hin richtet, wird
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/26>, abgerufen am 16.02.2025.
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