Gegen diese Formulirung des §. 50. ließ sich nun freilich Manches sa- gen, wie auch in dem vereinigten ständischen Ausschuß geschehen ist. i) Jedenfalls ging der Paragraph nicht in den Entwurf von 1850. über, und auch in der Kommission der ersten Kammer wurden die, in dersel- ben Richtung eingebrachten Abänderungsvorschläge nicht günstig auf- genommen. Der Bericht fährt nämlich also fort:
"Der diesen Vorschlägen zum Grunde liegenden Kritik des Ent- wurfs wurde jedoch von anderer Seite entgegengetreten. Auf wissen- schaftliche Vollständigkeit bei Aufzählung der möglichen Seelenkrankhei- ten könne und dürfe das Gesetz nicht Anspruch machen. Seine prak- tische Zweckmäßigkeit müsse nach dem Strafverfahren beurtheilt werden, und der gegenwärtige Entwurf setze ein Verfahren voraus, bei welchem der erkennende Richter nicht durch positive Beweisregeln geleitet und beschränkt, sondern verpflichtet und durch das mündliche Verfahren befä- higt sei, die Schuld des Thäters, mithin auch den Vorsatz, den Willen und also auch die Willensfreiheit zu prüfen, und ihn nur dann zu ver- urtheilen, wenn er diese nothwendigen Bedingungen der Strafbarkeit begründet finde. Er werde daher, ohne daß es dazu einer gesetzlichen Vorschrift bedürfe, in den geeigneten Fällen durch Anhörung von Sach- verständigen die psychische Medizin zu Rathe ziehen, und die Gründe, welche die freie Selbstbestimmung des Thäters beeinträchtigten, berück- sichtigen. Die vorliegende Gesetzesstelle bezwecke daher auch nicht, dem erkennenden Richter Verhaltungsregeln zu geben, sondern vielmehr die Fälle zu bezeichnen, wo es seiner Beurtheilung nicht bedürfe, wo vielmehr die Richtexistenz eines Verbrechens oder Vergehens so klar vor- liege, daß die Verfolgung entweder gar nicht einzuleiten oder vor der mündlichen Verhandlung einzustellen sei. Daß eine solche Ausschließung der gründlicheren, dem erkennenden Richter möglichen Prüfung nur in den Fällen augenscheinlicher und unzweifelhafter Unfreiheit erfolgen dürfe, liege in dem Zwecke der Strafjustiz, und sei daher die oben gerügte, an- scheinende Unvollständigkeit des Gesetzes keinesweges vorhanden, dasselbe vielmehr dem praktischen Bedürfnisse sehr wohl entsprechend."
Mit dieser feinen Ausführung stimmt auch die Auslegung, welche der Code penal, art. 64., die Quelle des §. 40., in der Französischen Praxis gefunden hat, insofern überein, als angenommen wird, daß, wenn der Wahnsinn des Thäters festgestellt worden ist, von einem weiteren Verfahren nicht mehr die Rede sein kann. Im Uebrigen faßt man die Bestimmungen des Art. 64. doch nicht bloß als Norm für die Raths-
i)Verhandlungen II. S. 378 ff.
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§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.
Gegen dieſe Formulirung des §. 50. ließ ſich nun freilich Manches ſa- gen, wie auch in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß geſchehen iſt. i) Jedenfalls ging der Paragraph nicht in den Entwurf von 1850. über, und auch in der Kommiſſion der erſten Kammer wurden die, in derſel- ben Richtung eingebrachten Abänderungsvorſchläge nicht günſtig auf- genommen. Der Bericht fährt nämlich alſo fort:
„Der dieſen Vorſchlägen zum Grunde liegenden Kritik des Ent- wurfs wurde jedoch von anderer Seite entgegengetreten. Auf wiſſen- ſchaftliche Vollſtändigkeit bei Aufzählung der möglichen Seelenkrankhei- ten könne und dürfe das Geſetz nicht Anſpruch machen. Seine prak- tiſche Zweckmäßigkeit müſſe nach dem Strafverfahren beurtheilt werden, und der gegenwärtige Entwurf ſetze ein Verfahren voraus, bei welchem der erkennende Richter nicht durch poſitive Beweisregeln geleitet und beſchränkt, ſondern verpflichtet und durch das mündliche Verfahren befä- higt ſei, die Schuld des Thäters, mithin auch den Vorſatz, den Willen und alſo auch die Willensfreiheit zu prüfen, und ihn nur dann zu ver- urtheilen, wenn er dieſe nothwendigen Bedingungen der Strafbarkeit begründet finde. Er werde daher, ohne daß es dazu einer geſetzlichen Vorſchrift bedürfe, in den geeigneten Fällen durch Anhörung von Sach- verſtändigen die pſychiſche Medizin zu Rathe ziehen, und die Gründe, welche die freie Selbſtbeſtimmung des Thäters beeinträchtigten, berück- ſichtigen. Die vorliegende Geſetzesſtelle bezwecke daher auch nicht, dem erkennenden Richter Verhaltungsregeln zu geben, ſondern vielmehr die Fälle zu bezeichnen, wo es ſeiner Beurtheilung nicht bedürfe, wo vielmehr die Richtexiſtenz eines Verbrechens oder Vergehens ſo klar vor- liege, daß die Verfolgung entweder gar nicht einzuleiten oder vor der mündlichen Verhandlung einzuſtellen ſei. Daß eine ſolche Ausſchließung der gründlicheren, dem erkennenden Richter möglichen Prüfung nur in den Fällen augenſcheinlicher und unzweifelhafter Unfreiheit erfolgen dürfe, liege in dem Zwecke der Strafjuſtiz, und ſei daher die oben gerügte, an- ſcheinende Unvollſtändigkeit des Geſetzes keinesweges vorhanden, daſſelbe vielmehr dem praktiſchen Bedürfniſſe ſehr wohl entſprechend.“
Mit dieſer feinen Ausführung ſtimmt auch die Auslegung, welche der Code pénal, art. 64., die Quelle des §. 40., in der Franzöſiſchen Praxis gefunden hat, inſofern überein, als angenommen wird, daß, wenn der Wahnſinn des Thäters feſtgeſtellt worden iſt, von einem weiteren Verfahren nicht mehr die Rede ſein kann. Im Uebrigen faßt man die Beſtimmungen des Art. 64. doch nicht bloß als Norm für die Raths-
i)Verhandlungen II. S. 378 ff.
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Gegen dieſe Formulirung des §. 50. ließ ſich nun freilich Manches ſa-
gen, wie auch in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß geſchehen iſt. i)
Jedenfalls ging der Paragraph nicht in den Entwurf von 1850. über,
und auch in der Kommiſſion der erſten Kammer wurden die, in derſel-
ben Richtung eingebrachten Abänderungsvorſchläge nicht günſtig auf-
genommen. Der Bericht fährt nämlich alſo fort:
„Der dieſen Vorſchlägen zum Grunde liegenden Kritik des Ent-
wurfs wurde jedoch von anderer Seite entgegengetreten. Auf wiſſen-
ſchaftliche Vollſtändigkeit bei Aufzählung der möglichen Seelenkrankhei-
ten könne und dürfe das Geſetz nicht Anſpruch machen. Seine prak-
tiſche Zweckmäßigkeit müſſe nach dem Strafverfahren beurtheilt werden,
und der gegenwärtige Entwurf ſetze ein Verfahren voraus, bei welchem
der erkennende Richter nicht durch poſitive Beweisregeln geleitet und
beſchränkt, ſondern verpflichtet und durch das mündliche Verfahren befä-
higt ſei, die Schuld des Thäters, mithin auch den Vorſatz, den Willen
und alſo auch die Willensfreiheit zu prüfen, und ihn nur dann zu ver-
urtheilen, wenn er dieſe nothwendigen Bedingungen der Strafbarkeit
begründet finde. Er werde daher, ohne daß es dazu einer geſetzlichen
Vorſchrift bedürfe, in den geeigneten Fällen durch Anhörung von Sach-
verſtändigen die pſychiſche Medizin zu Rathe ziehen, und die Gründe,
welche die freie Selbſtbeſtimmung des Thäters beeinträchtigten, berück-
ſichtigen. Die vorliegende Geſetzesſtelle bezwecke daher auch nicht, dem
erkennenden Richter Verhaltungsregeln zu geben, ſondern vielmehr
die Fälle zu bezeichnen, wo es ſeiner Beurtheilung nicht bedürfe, wo
vielmehr die Richtexiſtenz eines Verbrechens oder Vergehens ſo klar vor-
liege, daß die Verfolgung entweder gar nicht einzuleiten oder vor der
mündlichen Verhandlung einzuſtellen ſei. Daß eine ſolche Ausſchließung
der gründlicheren, dem erkennenden Richter möglichen Prüfung nur in
den Fällen augenſcheinlicher und unzweifelhafter Unfreiheit erfolgen dürfe,
liege in dem Zwecke der Strafjuſtiz, und ſei daher die oben gerügte, an-
ſcheinende Unvollſtändigkeit des Geſetzes keinesweges vorhanden, daſſelbe
vielmehr dem praktiſchen Bedürfniſſe ſehr wohl entſprechend.“
Mit dieſer feinen Ausführung ſtimmt auch die Auslegung, welche
der Code pénal, art. 64., die Quelle des §. 40., in der Franzöſiſchen
Praxis gefunden hat, inſofern überein, als angenommen wird, daß, wenn
der Wahnſinn des Thäters feſtgeſtellt worden iſt, von einem weiteren
Verfahren nicht mehr die Rede ſein kann. Im Uebrigen faßt man die
Beſtimmungen des Art. 64. doch nicht bloß als Norm für die Raths-
i) Verhandlungen II. S. 378 ff.
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/189>, abgerufen am 24.11.2024.
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