Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.personifizirt, denn Lieschen's einfacher, reinerer Sinn wandte sich von dem häuslichen Treiben und suchte unbewußt im Stillleben der Natur und ihrer eigenen Seele Ersatz für Das, was die Familie ihr nicht gab. Da hatte sie Fritz erblickt, und ihr Gemüth war zufrieden, sie wünschte nun nichts mehr, er erschien ihr wie ein Retter aus allem Leid. Aber plötzlich verschwand Fritz, und ihr war, als habe man ihr die Lebenslust geraubt; auch lebte sie von nun an nicht mehr, sie vegetirte, und nur wenn Fritzens Name ausgesprochen ward, wenn sie ihn von Ferne gehen sah, wenn sie seinen Schatten zu erblicken glaubte, regte sich das alte Blut in ihr, um ihr den Schmerz ihrer Wunden zu beweisen. Wie mußte ihr also zu Muthe werden, als sie Fritz heute wieder um das Haus schleichen sah wie sonst. Sie zitterte vor Angst, daß ihr Vater ihn erblicken möge, aber ihr Vater saß und rechnete mit dem Baumann; sie hatten eine Reise in die Nachbarschaft vor, alte Schulden einzukassiren, die sie ein paar Tage aufhalten mußte; den Schwiegersohn und Schwiegervater forderte die beabsichtigte Heirath zum Ordnen ihrer Vermögensumstände auf, und schon lange hieß es im Dorf, Lieschen's Vater sei reicher, als er scheinen wolle. Baumann war gekommen ihn abzuholen, nach dem Mittagsessen wollten sie aufbrechen. Lieschen öffnete das Fenster, um Fritz wo möglich durch einen Wink zu bedeuten, er solle sich jetzt entfernen; aber mit Verwunderung sah sie, daß er ihren Blicken personifizirt, denn Lieschen's einfacher, reinerer Sinn wandte sich von dem häuslichen Treiben und suchte unbewußt im Stillleben der Natur und ihrer eigenen Seele Ersatz für Das, was die Familie ihr nicht gab. Da hatte sie Fritz erblickt, und ihr Gemüth war zufrieden, sie wünschte nun nichts mehr, er erschien ihr wie ein Retter aus allem Leid. Aber plötzlich verschwand Fritz, und ihr war, als habe man ihr die Lebenslust geraubt; auch lebte sie von nun an nicht mehr, sie vegetirte, und nur wenn Fritzens Name ausgesprochen ward, wenn sie ihn von Ferne gehen sah, wenn sie seinen Schatten zu erblicken glaubte, regte sich das alte Blut in ihr, um ihr den Schmerz ihrer Wunden zu beweisen. Wie mußte ihr also zu Muthe werden, als sie Fritz heute wieder um das Haus schleichen sah wie sonst. Sie zitterte vor Angst, daß ihr Vater ihn erblicken möge, aber ihr Vater saß und rechnete mit dem Baumann; sie hatten eine Reise in die Nachbarschaft vor, alte Schulden einzukassiren, die sie ein paar Tage aufhalten mußte; den Schwiegersohn und Schwiegervater forderte die beabsichtigte Heirath zum Ordnen ihrer Vermögensumstände auf, und schon lange hieß es im Dorf, Lieschen's Vater sei reicher, als er scheinen wolle. Baumann war gekommen ihn abzuholen, nach dem Mittagsessen wollten sie aufbrechen. Lieschen öffnete das Fenster, um Fritz wo möglich durch einen Wink zu bedeuten, er solle sich jetzt entfernen; aber mit Verwunderung sah sie, daß er ihren Blicken <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0065"/> personifizirt, denn Lieschen's einfacher, reinerer Sinn wandte sich von dem häuslichen Treiben und suchte unbewußt im Stillleben der Natur und ihrer eigenen Seele Ersatz für Das, was die Familie ihr nicht gab. Da hatte sie Fritz erblickt, und ihr Gemüth war zufrieden, sie wünschte nun nichts mehr, er erschien ihr wie ein Retter aus allem Leid. Aber plötzlich verschwand Fritz, und ihr war, als habe man ihr die Lebenslust geraubt; auch lebte sie von nun an nicht mehr, sie vegetirte, und nur wenn Fritzens Name ausgesprochen ward, wenn sie ihn von Ferne gehen sah, wenn sie seinen Schatten zu erblicken glaubte, regte sich das alte Blut in ihr, um ihr den Schmerz ihrer Wunden zu beweisen. Wie mußte ihr also zu Muthe werden, als sie Fritz heute wieder um das Haus schleichen sah wie sonst. Sie zitterte vor Angst, daß ihr Vater ihn erblicken möge, aber ihr Vater saß und rechnete mit dem Baumann; sie hatten eine Reise in die Nachbarschaft vor, alte Schulden einzukassiren, die sie ein paar Tage aufhalten mußte; den Schwiegersohn und Schwiegervater forderte die beabsichtigte Heirath zum Ordnen ihrer Vermögensumstände auf, und schon lange hieß es im Dorf, Lieschen's Vater sei reicher, als er scheinen wolle. Baumann war gekommen ihn abzuholen, nach dem Mittagsessen wollten sie aufbrechen. Lieschen öffnete das Fenster, um Fritz wo möglich durch einen Wink zu bedeuten, er solle sich jetzt entfernen; aber mit Verwunderung sah sie, daß er ihren Blicken<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0065]
personifizirt, denn Lieschen's einfacher, reinerer Sinn wandte sich von dem häuslichen Treiben und suchte unbewußt im Stillleben der Natur und ihrer eigenen Seele Ersatz für Das, was die Familie ihr nicht gab. Da hatte sie Fritz erblickt, und ihr Gemüth war zufrieden, sie wünschte nun nichts mehr, er erschien ihr wie ein Retter aus allem Leid. Aber plötzlich verschwand Fritz, und ihr war, als habe man ihr die Lebenslust geraubt; auch lebte sie von nun an nicht mehr, sie vegetirte, und nur wenn Fritzens Name ausgesprochen ward, wenn sie ihn von Ferne gehen sah, wenn sie seinen Schatten zu erblicken glaubte, regte sich das alte Blut in ihr, um ihr den Schmerz ihrer Wunden zu beweisen. Wie mußte ihr also zu Muthe werden, als sie Fritz heute wieder um das Haus schleichen sah wie sonst. Sie zitterte vor Angst, daß ihr Vater ihn erblicken möge, aber ihr Vater saß und rechnete mit dem Baumann; sie hatten eine Reise in die Nachbarschaft vor, alte Schulden einzukassiren, die sie ein paar Tage aufhalten mußte; den Schwiegersohn und Schwiegervater forderte die beabsichtigte Heirath zum Ordnen ihrer Vermögensumstände auf, und schon lange hieß es im Dorf, Lieschen's Vater sei reicher, als er scheinen wolle. Baumann war gekommen ihn abzuholen, nach dem Mittagsessen wollten sie aufbrechen. Lieschen öffnete das Fenster, um Fritz wo möglich durch einen Wink zu bedeuten, er solle sich jetzt entfernen; aber mit Verwunderung sah sie, daß er ihren Blicken
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Zitationshilfe: | Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berthold_irrwischfritze_1910/65>, abgerufen am 17.07.2024. |