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Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738.

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darwider nichts ausrichten
nicht viel größer hätte seyn können, wenn mir
gleich GOtt im Himmel eine schrifftliche Ver-
sicherung, oder eine Handschrifft durch einen En-
gel darüber zugestellet hätte. Am Sonntage
Oculi in der Vesper, in der Neuen Kirche, muste
ich schon nach vielem Genuß der Gnade GOttes
das Urtheil fällen: daß mir der Oculi-Sonn-
tag wieder würde werden, wie
Anno 1710.
Doch bey dem allen, wenn der Paroxismus der
Kranckheit sich wieder einfand, und ich die Spa-
smos, Flatus,
Verstopffung, oder was es gewesen,
auf dem Miltz spührte: so war aller Trost und
Versicherung verschwunden, und wieder nichts
als lauter Furcht, Zagen, Bangigkeit, und thö-
richte Einbildung vorhanden. Wie ich bereits
oben gesaget, so möchte ich schier noch einmahl
sagen: Der krancke Miltz ist der gröste und
schärffste
Moralist auf Erden. Er macht die
abscheulichste Furcht und Angst; und weil man
nichts so sehr, als GOtt, seinen Zorn, und die
ewige Verdammniß fürchtet, so entdeckt man aus
Furcht alle Bosheit, alle Schlupff-Winckel des
menschlichen Hertzens, alle unlautere, unreine
Absichten, in Summa, man siehet alle seine ehe-
mahligen Sünden in der natürlichen Größe und
Abscheulichkeit, so daß das Gewissen bald im
höchsten Grad aufwacht, bald aber wiederum, so
bald man Linderung spühret, und sich an GOt-

tes

darwider nichts ausrichten
nicht viel groͤßer haͤtte ſeyn koͤnnen, wenn mir
gleich GOtt im Himmel eine ſchrifftliche Ver-
ſicherung, oder eine Handſchrifft durch einen En-
gel daruͤber zugeſtellet haͤtte. Am Sonntage
Oculi in der Veſper, in der Neuen Kirche, muſte
ich ſchon nach vielem Genuß der Gnade GOttes
das Urtheil faͤllen: daß mir der Oculi-Sonn-
tag wieder wuͤrde werden, wie
Anno 1710.
Doch bey dem allen, wenn der Paroxiſmus der
Kranckheit ſich wieder einfand, und ich die Spa-
ſmos, Flatus,
Verſtopffung, oder was es geweſen,
auf dem Miltz ſpuͤhrte: ſo war aller Troſt und
Verſicherung verſchwunden, und wieder nichts
als lauter Furcht, Zagen, Bangigkeit, und thoͤ-
richte Einbildung vorhanden. Wie ich bereits
oben geſaget, ſo moͤchte ich ſchier noch einmahl
ſagen: Der krancke Miltz iſt der groͤſte und
ſchaͤrffſte
Moraliſt auf Erden. Er macht die
abſcheulichſte Furcht und Angſt; und weil man
nichts ſo ſehr, als GOtt, ſeinen Zorn, und die
ewige Verdammniß fuͤrchtet, ſo entdeckt man aus
Furcht alle Bosheit, alle Schlupff-Winckel des
menſchlichen Hertzens, alle unlautere, unreine
Abſichten, in Summa, man ſiehet alle ſeine ehe-
mahligen Suͤnden in der natuͤrlichen Groͤße und
Abſcheulichkeit, ſo daß das Gewiſſen bald im
hoͤchſten Grad aufwacht, bald aber wiederum, ſo
bald man Linderung ſpuͤhret, und ſich an GOt-

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[714/0760] darwider nichts ausrichten nicht viel groͤßer haͤtte ſeyn koͤnnen, wenn mir gleich GOtt im Himmel eine ſchrifftliche Ver- ſicherung, oder eine Handſchrifft durch einen En- gel daruͤber zugeſtellet haͤtte. Am Sonntage Oculi in der Veſper, in der Neuen Kirche, muſte ich ſchon nach vielem Genuß der Gnade GOttes das Urtheil faͤllen: daß mir der Oculi-Sonn- tag wieder wuͤrde werden, wie Anno 1710. Doch bey dem allen, wenn der Paroxiſmus der Kranckheit ſich wieder einfand, und ich die Spa- ſmos, Flatus, Verſtopffung, oder was es geweſen, auf dem Miltz ſpuͤhrte: ſo war aller Troſt und Verſicherung verſchwunden, und wieder nichts als lauter Furcht, Zagen, Bangigkeit, und thoͤ- richte Einbildung vorhanden. Wie ich bereits oben geſaget, ſo moͤchte ich ſchier noch einmahl ſagen: Der krancke Miltz iſt der groͤſte und ſchaͤrffſte Moraliſt auf Erden. Er macht die abſcheulichſte Furcht und Angſt; und weil man nichts ſo ſehr, als GOtt, ſeinen Zorn, und die ewige Verdammniß fuͤrchtet, ſo entdeckt man aus Furcht alle Bosheit, alle Schlupff-Winckel des menſchlichen Hertzens, alle unlautere, unreine Abſichten, in Summa, man ſiehet alle ſeine ehe- mahligen Suͤnden in der natuͤrlichen Groͤße und Abſcheulichkeit, ſo daß das Gewiſſen bald im hoͤchſten Grad aufwacht, bald aber wiederum, ſo bald man Linderung ſpuͤhret, und ſich an GOt- tes

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Zitationshilfe: Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 714. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/760>, abgerufen am 24.11.2024.