Anno 1715. war wohl ein unglücklicher Tag in diesem Stücke vor mich; denn außer dem, daß dazumahl die 5. erbärmlichen Jahre meines Lebens angiengen, welche ich besser unten be- schreiben werde, so hatte eben dieser nicht nur des Morgens früh in der Predigt hefftig auf mich abermahl losgezogen, sondern trug auch kein Bedencken, nachmahls bey der Leiche in meiner Gegenwart mir zum Angehör solche stachlichte Reden zu führen, welche seinen Zorn und Neid wider mich sattsam anzeigten. Er redete von Mode-Predigten, und wie das blinde Volck im Wehlen nicht nur in Dreß- den, sondern auch in Leipzig so tumm und un- besonnen handele. Ein anderer, der neben ihm stund, schien ihm beyzustimmen, und erläuterte das, was er sagte, als ein in der lateinischen Oratorie vortrefflich geübter Mann, mit einer Passage aus einem alten Autore, der gespro- chen: daß wenn mancher auch nur ein Zwerg in der Erudition wäre, sich doch als ein Riese aufrichten, und darstellen wolle. Die Um- stände waren so klar, daß ich mit Recht schließen konte, daß vieles mir zum Angehör geredet sey; da ich sonst gerne zugebe, daß dazumahl viel- leicht in andern Kirchen die Zuhörer zu früh- zeitig geargwohnet, und manches Wort des Predigers auslegen wollen, als ob es auf mich
gemey-
als in Zuſammenkuͤnfften,
Anno 1715. war wohl ein ungluͤcklicher Tag in dieſem Stuͤcke vor mich; denn außer dem, daß dazumahl die 5. erbaͤrmlichen Jahre meines Lebens angiengen, welche ich beſſer unten be- ſchreiben werde, ſo hatte eben dieſer nicht nur des Morgens fruͤh in der Predigt hefftig auf mich abermahl losgezogen, ſondern trug auch kein Bedencken, nachmahls bey der Leiche in meiner Gegenwart mir zum Angehoͤr ſolche ſtachlichte Reden zu fuͤhren, welche ſeinen Zorn und Neid wider mich ſattſam anzeigten. Er redete von Mode-Predigten, und wie das blinde Volck im Wehlen nicht nur in Dreß- den, ſondern auch in Leipzig ſo tumm und un- beſonnen handele. Ein anderer, der neben ihm ſtund, ſchien ihm beyzuſtimmen, und erlaͤuterte das, was er ſagte, als ein in der lateiniſchen Oratorie vortrefflich geuͤbter Mann, mit einer Paſſage aus einem alten Autore, der geſpro- chen: daß wenn mancher auch nur ein Zwerg in der Erudition waͤre, ſich doch als ein Rieſe aufrichten, und darſtellen wolle. Die Um- ſtaͤnde waren ſo klar, daß ich mit Recht ſchließen konte, daß vieles mir zum Angehoͤr geredet ſey; da ich ſonſt gerne zugebe, daß dazumahl viel- leicht in andern Kirchen die Zuhoͤrer zu fruͤh- zeitig geargwohnet, und manches Wort des Predigers auslegen wollen, als ob es auf mich
gemey-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0610"n="564"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">als in Zuſammenkuͤnfften,</hi></fw><lb/><hirendition="#aq">Anno</hi> 1715. war wohl ein ungluͤcklicher Tag in<lb/>
dieſem Stuͤcke vor mich; denn außer dem,<lb/>
daß dazumahl die 5. erbaͤrmlichen Jahre meines<lb/>
Lebens angiengen, welche ich beſſer unten be-<lb/>ſchreiben werde, ſo hatte eben dieſer nicht nur<lb/>
des Morgens fruͤh in der Predigt hefftig auf<lb/>
mich abermahl losgezogen, ſondern trug auch<lb/>
kein Bedencken, nachmahls bey der Leiche in<lb/>
meiner Gegenwart mir zum Angehoͤr ſolche<lb/>ſtachlichte Reden zu fuͤhren, welche ſeinen Zorn<lb/>
und Neid wider mich ſattſam anzeigten. Er<lb/>
redete von <hirendition="#aq">Mode-</hi>Predigten, und wie das<lb/>
blinde Volck im Wehlen nicht nur in Dreß-<lb/>
den, ſondern auch in Leipzig ſo tumm und un-<lb/>
beſonnen handele. Ein anderer, der neben<lb/>
ihm ſtund, ſchien ihm beyzuſtimmen, und erlaͤuterte<lb/>
das, was er ſagte, als ein in der lateiniſchen<lb/><hirendition="#aq">Oratorie</hi> vortrefflich geuͤbter Mann, mit einer<lb/><hirendition="#aq">Paſſage</hi> aus einem alten <hirendition="#aq">Autore,</hi> der geſpro-<lb/>
chen: daß wenn mancher auch nur ein Zwerg<lb/>
in der <hirendition="#aq">Erudition</hi> waͤre, ſich doch als ein Rieſe<lb/>
aufrichten, und darſtellen wolle. Die Um-<lb/>ſtaͤnde waren ſo klar, daß ich mit Recht ſchließen<lb/>
konte, daß vieles mir zum Angehoͤr geredet ſey;<lb/>
da ich ſonſt gerne zugebe, daß dazumahl viel-<lb/>
leicht in andern Kirchen die Zuhoͤrer zu fruͤh-<lb/>
zeitig geargwohnet, und manches Wort des<lb/>
Predigers auslegen wollen, als ob es auf mich<lb/><fwplace="bottom"type="catch">gemey-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[564/0610]
als in Zuſammenkuͤnfften,
Anno 1715. war wohl ein ungluͤcklicher Tag in
dieſem Stuͤcke vor mich; denn außer dem,
daß dazumahl die 5. erbaͤrmlichen Jahre meines
Lebens angiengen, welche ich beſſer unten be-
ſchreiben werde, ſo hatte eben dieſer nicht nur
des Morgens fruͤh in der Predigt hefftig auf
mich abermahl losgezogen, ſondern trug auch
kein Bedencken, nachmahls bey der Leiche in
meiner Gegenwart mir zum Angehoͤr ſolche
ſtachlichte Reden zu fuͤhren, welche ſeinen Zorn
und Neid wider mich ſattſam anzeigten. Er
redete von Mode-Predigten, und wie das
blinde Volck im Wehlen nicht nur in Dreß-
den, ſondern auch in Leipzig ſo tumm und un-
beſonnen handele. Ein anderer, der neben
ihm ſtund, ſchien ihm beyzuſtimmen, und erlaͤuterte
das, was er ſagte, als ein in der lateiniſchen
Oratorie vortrefflich geuͤbter Mann, mit einer
Paſſage aus einem alten Autore, der geſpro-
chen: daß wenn mancher auch nur ein Zwerg
in der Erudition waͤre, ſich doch als ein Rieſe
aufrichten, und darſtellen wolle. Die Um-
ſtaͤnde waren ſo klar, daß ich mit Recht ſchließen
konte, daß vieles mir zum Angehoͤr geredet ſey;
da ich ſonſt gerne zugebe, daß dazumahl viel-
leicht in andern Kirchen die Zuhoͤrer zu fruͤh-
zeitig geargwohnet, und manches Wort des
Predigers auslegen wollen, als ob es auf mich
gemey-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 564. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/610>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.