ich habe mit ihnen gegessen, getruncken, gespielet, und habe auf nichts so genau, als auf ihre Reli- gion, und was sie statuiren, und vor Principia hegen, Achtung gegeben; und ich bin versichert, daß unter 100. Bürgern in einer Stadt nicht ei- ner sey, der nicht eben solche Sentiments hege, wie mein Vater. Es scheint ein Stück der un- mäßigen, oder vielmehr sündlichen Weichhertzig- keit, die nach dem Falle bey den Menschen sich findet, zu seyn, daß, wenn sie die erschreckliche und unbegreiffliche Menge der Menschen auf der Welt betrachten, sie aus Erbarmen ihnen erst die Seligkeit wünschen, und hernach das, was sie wünschen, vor leicht und vor möglich achten; so daß man es Predigern nicht verargen kan, wenn sie diese Leichtgläubigkeit der Zuhörer, und diese excessive Hoffnung, welche sie wider GOttes Wort von der Seligkeit aller Menschen, sie mö- gen von einer Religion seyn, von welcher sie wol- len, hegen, offters widerlegen, weil dieselbe so sehr bey Hohen und Niedrigen überhand genommen.
Ob nun wol mein Vater solchen Jrrthum von der Seligkeit der ungläubigen Völcker hegte, so dencke ich doch nicht, daß ihm dieses an seiner Seligkeit werde geschadet haben. Er hielt uns Kinder zur Kirchen und Schulen an, war selbst auch kein Verächter GOttes und seines Wortes. Gegen die Armen erwieß er sich sehr gutthätig,
daß
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und die erſten Tage
ich habe mit ihnen gegeſſen, getruncken, geſpielet, und habe auf nichts ſo genau, als auf ihre Reli- gion, und was ſie ſtatuiren, und vor Principia hegen, Achtung gegeben; und ich bin verſichert, daß unter 100. Buͤrgern in einer Stadt nicht ei- ner ſey, der nicht eben ſolche Sentiments hege, wie mein Vater. Es ſcheint ein Stuͤck der un- maͤßigen, oder vielmehr ſuͤndlichen Weichhertzig- keit, die nach dem Falle bey den Menſchen ſich findet, zu ſeyn, daß, wenn ſie die erſchreckliche und unbegreiffliche Menge der Menſchen auf der Welt betrachten, ſie aus Erbarmen ihnen erſt die Seligkeit wuͤnſchen, und hernach das, was ſie wuͤnſchen, vor leicht und vor moͤglich achten; ſo daß man es Predigern nicht verargen kan, wenn ſie dieſe Leichtglaͤubigkeit der Zuhoͤrer, und dieſe exceſſive Hoffnung, welche ſie wider GOttes Wort von der Seligkeit aller Menſchen, ſie moͤ- gen von einer Religion ſeyn, von welcher ſie wol- len, hegen, offters widerlegen, weil dieſelbe ſo ſehr bey Hohen und Niedrigen uͤberhand genommen.
Ob nun wol mein Vater ſolchen Jrrthum von der Seligkeit der unglaͤubigen Voͤlcker hegte, ſo dencke ich doch nicht, daß ihm dieſes an ſeiner Seligkeit werde geſchadet haben. Er hielt uns Kinder zur Kirchen und Schulen an, war ſelbſt auch kein Veraͤchter GOttes und ſeines Wortes. Gegen die Armen erwieß er ſich ſehr gutthaͤtig,
daß
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und die erſten Tage
ich habe mit ihnen gegeſſen, getruncken, geſpielet,
und habe auf nichts ſo genau, als auf ihre Reli-
gion, und was ſie ſtatuiren, und vor Principia
hegen, Achtung gegeben; und ich bin verſichert,
daß unter 100. Buͤrgern in einer Stadt nicht ei-
ner ſey, der nicht eben ſolche Sentiments hege,
wie mein Vater. Es ſcheint ein Stuͤck der un-
maͤßigen, oder vielmehr ſuͤndlichen Weichhertzig-
keit, die nach dem Falle bey den Menſchen ſich
findet, zu ſeyn, daß, wenn ſie die erſchreckliche
und unbegreiffliche Menge der Menſchen auf der
Welt betrachten, ſie aus Erbarmen ihnen erſt die
Seligkeit wuͤnſchen, und hernach das, was ſie
wuͤnſchen, vor leicht und vor moͤglich achten; ſo
daß man es Predigern nicht verargen kan, wenn
ſie dieſe Leichtglaͤubigkeit der Zuhoͤrer, und dieſe
exceſſive Hoffnung, welche ſie wider GOttes
Wort von der Seligkeit aller Menſchen, ſie moͤ-
gen von einer Religion ſeyn, von welcher ſie wol-
len, hegen, offters widerlegen, weil dieſelbe ſo ſehr
bey Hohen und Niedrigen uͤberhand genommen.
Ob nun wol mein Vater ſolchen Jrrthum
von der Seligkeit der unglaͤubigen Voͤlcker hegte,
ſo dencke ich doch nicht, daß ihm dieſes an ſeiner
Seligkeit werde geſchadet haben. Er hielt uns
Kinder zur Kirchen und Schulen an, war ſelbſt
auch kein Veraͤchter GOttes und ſeines Wortes.
Gegen die Armen erwieß er ſich ſehr gutthaͤtig,
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Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/55>, abgerufen am 21.11.2024.
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