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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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hauttrübung in Fall 6. Bis zu einem gewissen Grade
müssen wir diese Frage allerdings hinsichtlich der im
Fall 3 constatirten Hemianopsie offen lassen. Im Fall 1,
2 und 4 dagegen hatte die eingehendste specialistische
Untersuchung keinerlei Defect des Sehorgans nachweisen
können.

Diese vollständige Unabhängigkeit der Dyslexie von
etwelchen Erkrankungen des Auges und seiner Adnexa
deutet schon von vorn herein darauf hin, dass wir die
Ursache derselben in einer Erkrankung des Gehirns zu
suchen haben.

Ich betone den Ausdruck "Erkrankung", um sogleich
auf den Unterschied hinzuweisen, welcher zwischen der
uns hier beschäftigenden Form der Aphasie und der-
jenigen besteht, welche wir bei vorübergehender Er-
nährungsstörung des Gehirns in Folge allgemeiner Ina-
nition durch vorausgegangene schwächende Krankheiten
beobachten. Auf eine derartige passagere Ernährungs-
störung der Centralorgane können unsere Fälle nicht
zurückgeführt werden, denn keiner der Patienten hatte
unmittelbar vorher eine fieberhafte oder sonst eine den
Körper schwächende Krankheit durchgemacht; vielmehr
hatte die plötzlich entstandene Lesestörung sie inmitten
relativ ungestörten Wohlseins betroffen und es waren
dieselben theils gar keine, theils nur unbedeutende Be-
einträchtigungen des Allgemeinbefindens, wie Schwindel,
Kopfweh etc. vorausgegangen. Ausserdem aber trat die
dysphasische Störung lediglich beim Lesen auf, während
bei mündlicher Unterhaltung in den uncomplicirten Fällen
überhaupt keine Beeinträchtigung des Sprechens nachzu-
weisen war. Die in Fall 3 vorhandene gleichzeitige Aphasie
war ebenfalls nicht das Product einer allgemeinen Schwäche;
auch übte sie keinerlei Einfluss auf die Lesestörung.

Eine der Dyslexie sehr ähnliche mangelhafte Aus-
dauer beim Lesen habe ich auch einige Male bei chro-

hauttrübung in Fall 6. Bis zu einem gewissen Grade
müssen wir diese Frage allerdings hinsichtlich der im
Fall 3 constatirten Hemianopsie offen lassen. Im Fall 1,
2 und 4 dagegen hatte die eingehendste specialistische
Untersuchung keinerlei Defect des Sehorgans nachweisen
können.

Diese vollständige Unabhängigkeit der Dyslexie von
etwelchen Erkrankungen des Auges und seiner Adnexa
deutet schon von vorn herein darauf hin, dass wir die
Ursache derselben in einer Erkrankung des Gehirns zu
suchen haben.

Ich betone den Ausdruck „Erkrankung“, um sogleich
auf den Unterschied hinzuweisen, welcher zwischen der
uns hier beschäftigenden Form der Aphasie und der-
jenigen besteht, welche wir bei vorübergehender Er-
nährungsstörung des Gehirns in Folge allgemeiner Ina-
nition durch vorausgegangene schwächende Krankheiten
beobachten. Auf eine derartige passagere Ernährungs-
störung der Centralorgane können unsere Fälle nicht
zurückgeführt werden, denn keiner der Patienten hatte
unmittelbar vorher eine fieberhafte oder sonst eine den
Körper schwächende Krankheit durchgemacht; vielmehr
hatte die plötzlich entstandene Lesestörung sie inmitten
relativ ungestörten Wohlseins betroffen und es waren
dieselben theils gar keine, theils nur unbedeutende Be-
einträchtigungen des Allgemeinbefindens, wie Schwindel,
Kopfweh etc. vorausgegangen. Ausserdem aber trat die
dysphasische Störung lediglich beim Lesen auf, während
bei mündlicher Unterhaltung in den uncomplicirten Fällen
überhaupt keine Beeinträchtigung des Sprechens nachzu-
weisen war. Die in Fall 3 vorhandene gleichzeitige Aphasie
war ebenfalls nicht das Product einer allgemeinen Schwäche;
auch übte sie keinerlei Einfluss auf die Lesestörung.

Eine der Dyslexie sehr ähnliche mangelhafte Aus-
dauer beim Lesen habe ich auch einige Male bei chro-

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[32/0036] hauttrübung in Fall 6. Bis zu einem gewissen Grade müssen wir diese Frage allerdings hinsichtlich der im Fall 3 constatirten Hemianopsie offen lassen. Im Fall 1, 2 und 4 dagegen hatte die eingehendste specialistische Untersuchung keinerlei Defect des Sehorgans nachweisen können. Diese vollständige Unabhängigkeit der Dyslexie von etwelchen Erkrankungen des Auges und seiner Adnexa deutet schon von vorn herein darauf hin, dass wir die Ursache derselben in einer Erkrankung des Gehirns zu suchen haben. Ich betone den Ausdruck „Erkrankung“, um sogleich auf den Unterschied hinzuweisen, welcher zwischen der uns hier beschäftigenden Form der Aphasie und der- jenigen besteht, welche wir bei vorübergehender Er- nährungsstörung des Gehirns in Folge allgemeiner Ina- nition durch vorausgegangene schwächende Krankheiten beobachten. Auf eine derartige passagere Ernährungs- störung der Centralorgane können unsere Fälle nicht zurückgeführt werden, denn keiner der Patienten hatte unmittelbar vorher eine fieberhafte oder sonst eine den Körper schwächende Krankheit durchgemacht; vielmehr hatte die plötzlich entstandene Lesestörung sie inmitten relativ ungestörten Wohlseins betroffen und es waren dieselben theils gar keine, theils nur unbedeutende Be- einträchtigungen des Allgemeinbefindens, wie Schwindel, Kopfweh etc. vorausgegangen. Ausserdem aber trat die dysphasische Störung lediglich beim Lesen auf, während bei mündlicher Unterhaltung in den uncomplicirten Fällen überhaupt keine Beeinträchtigung des Sprechens nachzu- weisen war. Die in Fall 3 vorhandene gleichzeitige Aphasie war ebenfalls nicht das Product einer allgemeinen Schwäche; auch übte sie keinerlei Einfluss auf die Lesestörung. Eine der Dyslexie sehr ähnliche mangelhafte Aus- dauer beim Lesen habe ich auch einige Male bei chro-

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/36>, abgerufen am 23.11.2024.