Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Bannwald.
der Zerstörung! Welch groteske, abenteuerliche Gruppirungen von
zersplitterten Bäumen, übereinander gewälzten Gesteinstrümmern,
hochaufgeworfenen Schuttwällen, durchwühlten Erdhaufen und Ge¬
strüppfaschinen! Und wie geschäftig umklettern Flechten, Pilze
und Moose die Gefallenen und saugen ihnen gierig die letzten
Lebenstropfen aus. Orthotrichum speciosum, dieses lebhaft¬
gelbgrüne Moos, das auch die alten Obstbäume des Flachlandes
nicht unverschont läßt, überzieht in Gemeinschaft einer Unmasse
von grauen und fahlen Flechten das abgestorbene Tannengezweige
gänzlich. Die Stämme umkriecht in gewundenen Ranken die
Georgia mnemosynum; in den Spalten und Rißwunden haben
freudiggrüne Astmoose, namentlich Hypnum puichellum und
serpens sich angesiedelt, äußerst zarte, lebhaft-purpurrothe Frucht¬
stielchen treibend; an manchen Stellen breiten sich Knotenmoose
wie Bryum longicollum und capillare als dicht gedrängte Schöpfe
gelbgrün-glänzend, große Flächen in Beschlag nehmend, aus. Dies
sind nur einige der form- und farbeschönen Parasiten, die durch
die Zierlichkeit ihres Baues und ihren leuchtenden Glanz das
Auge entzücken. Dazwischen aber drängen sich Legionen unschöner
Flechten hervor, wie die graugrüne Biatora icmadophila mit den
fleischfarbenen Apothecien, die ungemein große hellbraune Sticta
pulmonacia,
die schmutzig-zinnoberrothe Lepra cinnabarina und
die schwefelgelbe, staubige L. sulphurea u. a.

In diesen mikrokosmischen Ansiedelungen der Pflanzenwelt
lebt und webt nun eine Insekten-Bevölkerung von Raubspinnen
und Ameisen, Tausendfüßlern und Milben, Käfern, Fliegen und
Würmern in beständigem Kriege, gräbt sich Höhlen in der korkig¬
schwammigen Textur des verfaulenden Holzes, spinnt sich Nester
zwischen den Mooszweigen, verschanzt sich unter dem Thallus der
Flechten, liegt im Hinterhalt auf dem Sprunge, oder besorgt mit
ängstlicher Geschäftigkeit die häuslichen Bedürfnisse der kleinen
Oekonomie. Welch eine unendlich reiche Welt im Kleinen erschließt

Der Bannwald.
der Zerſtörung! Welch groteske, abenteuerliche Gruppirungen von
zerſplitterten Bäumen, übereinander gewälzten Geſteinstrümmern,
hochaufgeworfenen Schuttwällen, durchwühlten Erdhaufen und Ge¬
ſtrüppfaſchinen! Und wie geſchäftig umklettern Flechten, Pilze
und Mooſe die Gefallenen und ſaugen ihnen gierig die letzten
Lebenstropfen aus. Orthotrichum speciosum, dieſes lebhaft¬
gelbgrüne Moos, das auch die alten Obſtbäume des Flachlandes
nicht unverſchont läßt, überzieht in Gemeinſchaft einer Unmaſſe
von grauen und fahlen Flechten das abgeſtorbene Tannengezweige
gänzlich. Die Stämme umkriecht in gewundenen Ranken die
Georgia mnemosynum; in den Spalten und Rißwunden haben
freudiggrüne Aſtmooſe, namentlich Hypnum puichellum und
serpens ſich angeſiedelt, äußerſt zarte, lebhaft-purpurrothe Frucht¬
ſtielchen treibend; an manchen Stellen breiten ſich Knotenmooſe
wie Bryum longicollum und capillare als dicht gedrängte Schöpfe
gelbgrün-glänzend, große Flächen in Beſchlag nehmend, aus. Dies
ſind nur einige der form- und farbeſchönen Paraſiten, die durch
die Zierlichkeit ihres Baues und ihren leuchtenden Glanz das
Auge entzücken. Dazwiſchen aber drängen ſich Legionen unſchöner
Flechten hervor, wie die graugrüne Biatora icmadophila mit den
fleiſchfarbenen Apothecien, die ungemein große hellbraune Sticta
pulmonacia,
die ſchmutzig-zinnoberrothe Lepra cinnabarina und
die ſchwefelgelbe, ſtaubige L. sulphurea u. a.

In dieſen mikrokosmiſchen Anſiedelungen der Pflanzenwelt
lebt und webt nun eine Inſekten-Bevölkerung von Raubſpinnen
und Ameiſen, Tauſendfüßlern und Milben, Käfern, Fliegen und
Würmern in beſtändigem Kriege, gräbt ſich Höhlen in der korkig¬
ſchwammigen Textur des verfaulenden Holzes, ſpinnt ſich Neſter
zwiſchen den Mooszweigen, verſchanzt ſich unter dem Thallus der
Flechten, liegt im Hinterhalt auf dem Sprunge, oder beſorgt mit
ängſtlicher Geſchäftigkeit die häuslichen Bedürfniſſe der kleinen
Oekonomie. Welch eine unendlich reiche Welt im Kleinen erſchließt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0096" n="74"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Bannwald</hi>.<lb/></fw> der Zer&#x017F;törung! Welch groteske, abenteuerliche Gruppirungen von<lb/>
zer&#x017F;plitterten Bäumen, übereinander gewälzten Ge&#x017F;teinstrümmern,<lb/>
hochaufgeworfenen Schuttwällen, durchwühlten Erdhaufen und Ge¬<lb/>
&#x017F;trüppfa&#x017F;chinen! Und wie ge&#x017F;chäftig umklettern Flechten, Pilze<lb/>
und Moo&#x017F;e die Gefallenen und &#x017F;augen ihnen gierig die letzten<lb/>
Lebenstropfen aus. <hi rendition="#aq">Orthotrichum speciosum,</hi> die&#x017F;es lebhaft¬<lb/>
gelbgrüne Moos, das auch die alten Ob&#x017F;tbäume des Flachlandes<lb/>
nicht unver&#x017F;chont läßt, überzieht in Gemein&#x017F;chaft einer Unma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
von grauen und fahlen Flechten das abge&#x017F;torbene Tannengezweige<lb/>
gänzlich. Die Stämme umkriecht in gewundenen Ranken die<lb/><hi rendition="#aq">Georgia mnemosynum;</hi> in den Spalten und Rißwunden haben<lb/>
freudiggrüne A&#x017F;tmoo&#x017F;e, namentlich <hi rendition="#aq">Hypnum puichellum</hi> und<lb/><hi rendition="#aq">serpens</hi> &#x017F;ich ange&#x017F;iedelt, äußer&#x017F;t zarte, lebhaft-purpurrothe Frucht¬<lb/>
&#x017F;tielchen treibend; an manchen Stellen breiten &#x017F;ich <hi rendition="#g">Knotenmoo&#x017F;e</hi><lb/>
wie <hi rendition="#aq">Bryum longicollum</hi> und <hi rendition="#aq">capillare</hi> als dicht gedrängte Schöpfe<lb/>
gelbgrün-glänzend, große Flächen in Be&#x017F;chlag nehmend, aus. Dies<lb/>
&#x017F;ind nur einige der form- und farbe&#x017F;chönen Para&#x017F;iten, die durch<lb/>
die Zierlichkeit ihres Baues und ihren leuchtenden Glanz das<lb/>
Auge entzücken. Dazwi&#x017F;chen aber drängen &#x017F;ich Legionen un&#x017F;chöner<lb/>
Flechten hervor, wie die graugrüne <hi rendition="#aq">Biatora icmadophila</hi> mit den<lb/>
flei&#x017F;chfarbenen Apothecien, die ungemein große hellbraune <hi rendition="#aq">Sticta<lb/>
pulmonacia,</hi> die &#x017F;chmutzig-zinnoberrothe <hi rendition="#aq">Lepra cinnabarina</hi> und<lb/>
die &#x017F;chwefelgelbe, &#x017F;taubige <hi rendition="#aq">L. sulphurea</hi> u. a.</p><lb/>
        <p>In die&#x017F;en mikrokosmi&#x017F;chen An&#x017F;iedelungen der Pflanzenwelt<lb/>
lebt und webt nun eine In&#x017F;ekten-Bevölkerung von Raub&#x017F;pinnen<lb/>
und Amei&#x017F;en, Tau&#x017F;endfüßlern und Milben, Käfern, Fliegen und<lb/>
Würmern in be&#x017F;tändigem Kriege, gräbt &#x017F;ich Höhlen in der korkig¬<lb/>
&#x017F;chwammigen Textur des verfaulenden Holzes, &#x017F;pinnt &#x017F;ich Ne&#x017F;ter<lb/>
zwi&#x017F;chen den Mooszweigen, ver&#x017F;chanzt &#x017F;ich unter dem Thallus der<lb/>
Flechten, liegt im Hinterhalt auf dem Sprunge, oder be&#x017F;orgt mit<lb/>
äng&#x017F;tlicher Ge&#x017F;chäftigkeit die häuslichen Bedürfni&#x017F;&#x017F;e der kleinen<lb/>
Oekonomie. Welch eine unendlich reiche Welt im Kleinen er&#x017F;chließt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0096] Der Bannwald. der Zerſtörung! Welch groteske, abenteuerliche Gruppirungen von zerſplitterten Bäumen, übereinander gewälzten Geſteinstrümmern, hochaufgeworfenen Schuttwällen, durchwühlten Erdhaufen und Ge¬ ſtrüppfaſchinen! Und wie geſchäftig umklettern Flechten, Pilze und Mooſe die Gefallenen und ſaugen ihnen gierig die letzten Lebenstropfen aus. Orthotrichum speciosum, dieſes lebhaft¬ gelbgrüne Moos, das auch die alten Obſtbäume des Flachlandes nicht unverſchont läßt, überzieht in Gemeinſchaft einer Unmaſſe von grauen und fahlen Flechten das abgeſtorbene Tannengezweige gänzlich. Die Stämme umkriecht in gewundenen Ranken die Georgia mnemosynum; in den Spalten und Rißwunden haben freudiggrüne Aſtmooſe, namentlich Hypnum puichellum und serpens ſich angeſiedelt, äußerſt zarte, lebhaft-purpurrothe Frucht¬ ſtielchen treibend; an manchen Stellen breiten ſich Knotenmooſe wie Bryum longicollum und capillare als dicht gedrängte Schöpfe gelbgrün-glänzend, große Flächen in Beſchlag nehmend, aus. Dies ſind nur einige der form- und farbeſchönen Paraſiten, die durch die Zierlichkeit ihres Baues und ihren leuchtenden Glanz das Auge entzücken. Dazwiſchen aber drängen ſich Legionen unſchöner Flechten hervor, wie die graugrüne Biatora icmadophila mit den fleiſchfarbenen Apothecien, die ungemein große hellbraune Sticta pulmonacia, die ſchmutzig-zinnoberrothe Lepra cinnabarina und die ſchwefelgelbe, ſtaubige L. sulphurea u. a. In dieſen mikrokosmiſchen Anſiedelungen der Pflanzenwelt lebt und webt nun eine Inſekten-Bevölkerung von Raubſpinnen und Ameiſen, Tauſendfüßlern und Milben, Käfern, Fliegen und Würmern in beſtändigem Kriege, gräbt ſich Höhlen in der korkig¬ ſchwammigen Textur des verfaulenden Holzes, ſpinnt ſich Neſter zwiſchen den Mooszweigen, verſchanzt ſich unter dem Thallus der Flechten, liegt im Hinterhalt auf dem Sprunge, oder beſorgt mit ängſtlicher Geſchäftigkeit die häuslichen Bedürfniſſe der kleinen Oekonomie. Welch eine unendlich reiche Welt im Kleinen erſchließt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/96
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/96>, abgerufen am 22.11.2024.