trotzig der niederschlagenden Wassergüsse die scharfen Kanten und Spitzen entgegengestreckt und heldenmüthig widerstanden. Es sind die gleichen alten Kämpen, die in den Stürmen des Winters, wenn das quatte, weiche Zellengefüge fast aller anderen niederen Phanerogamen gährend sich zersetzt, -- obgleich marklos, dennoch aufrecht, wie auf dem Posten erfrorene Schildwachen dastehen, und mit ihren gebleichten nackten Blüthenschädeln in den allgemeinen Naturschlaf hineingrinsen, bis Boreas oder die Wucht des auf ihr Geripp sich lagernden Schnees auch sie umknickt und der übrigen verwesenden Masse beifügt. Ihre Devise sollte sein: "Treu bis in den Tod!" --
Und nun vollends das Proletariat der Vegetation, das ge¬ meine, niedrig am Boden kriechende Volk der Gräser, dieses Grund¬ aggregat alles dessen, was unmittelbar "Nahrung" liefert, die breiten schilfblätterigen Schwingelarten, die luftigen, kupferroth¬ spiegelnden Windhalme, die federbuschigen Calamagrosten und die fettlaubigen Hirsegräser mit ihren gespreizten krakehligen Aehren¬ dolden, die zarten schüchternen Schmielen und die derben behäbigen Poaceen, wie so gänzlich erschlafft liegen sie da. Die elastische, langausgiebige Widerstandsfähigkeit, die Muskelkraft der schlanken Rispen ist gebrochen, -- wie von den darüber hinfluthenden Regen¬ bächen glatt gekämmt, schmiegen sie sich den Bodenformen sklavisch an. Item! Ein allgemeines Betrunkensein herrscht in der Pflanzen¬ welt und der Regen hats ihr gezeigt, wie es aussieht, wenn er Meister ist. Denn die Regenmenge in den Alpen ist eine ganz andere als in den flachen Gegenden. Während die süddeutsche Hochebene jährlich im Durchschnitt nur 24 bis 25 Zoll Regen hat und die norddeutsche Tiefebene gar nur 22 Zoll, steigt dieselbe in den inneren Alpenthälern auf 54 Zoll und auf dem großen St. Bernhard nach siebenjährigem Durchschnitt gar auf 73 Zoll.
Aber dies Alles charakterisirt die Eigenthümlichkeiten lang¬ andauernden nassen Wetters im Gebirge noch nicht allein; verwandte
Der Goldauer Bergſturz.
trotzig der niederſchlagenden Waſſergüſſe die ſcharfen Kanten und Spitzen entgegengeſtreckt und heldenmüthig widerſtanden. Es ſind die gleichen alten Kämpen, die in den Stürmen des Winters, wenn das quatte, weiche Zellengefüge faſt aller anderen niederen Phanerogamen gährend ſich zerſetzt, — obgleich marklos, dennoch aufrecht, wie auf dem Poſten erfrorene Schildwachen daſtehen, und mit ihren gebleichten nackten Blüthenſchädeln in den allgemeinen Naturſchlaf hineingrinſen, bis Boreas oder die Wucht des auf ihr Geripp ſich lagernden Schnees auch ſie umknickt und der übrigen verweſenden Maſſe beifügt. Ihre Deviſe ſollte ſein: „Treu bis in den Tod!“ —
Und nun vollends das Proletariat der Vegetation, das ge¬ meine, niedrig am Boden kriechende Volk der Gräſer, dieſes Grund¬ aggregat alles deſſen, was unmittelbar „Nahrung“ liefert, die breiten ſchilfblätterigen Schwingelarten, die luftigen, kupferroth¬ ſpiegelnden Windhalme, die federbuſchigen Calamagroſten und die fettlaubigen Hirſegräſer mit ihren geſpreizten krakehligen Aehren¬ dolden, die zarten ſchüchternen Schmielen und die derben behäbigen Poaceen, wie ſo gänzlich erſchlafft liegen ſie da. Die elaſtiſche, langausgiebige Widerſtandsfähigkeit, die Muskelkraft der ſchlanken Rispen iſt gebrochen, — wie von den darüber hinfluthenden Regen¬ bächen glatt gekämmt, ſchmiegen ſie ſich den Bodenformen ſklaviſch an. Item! Ein allgemeines Betrunkenſein herrſcht in der Pflanzen¬ welt und der Regen hats ihr gezeigt, wie es ausſieht, wenn er Meiſter iſt. Denn die Regenmenge in den Alpen iſt eine ganz andere als in den flachen Gegenden. Während die ſüddeutſche Hochebene jährlich im Durchſchnitt nur 24 bis 25 Zoll Regen hat und die norddeutſche Tiefebene gar nur 22 Zoll, ſteigt dieſelbe in den inneren Alpenthälern auf 54 Zoll und auf dem großen St. Bernhard nach ſiebenjährigem Durchſchnitt gar auf 73 Zoll.
Aber dies Alles charakteriſirt die Eigenthümlichkeiten lang¬ andauernden naſſen Wetters im Gebirge noch nicht allein; verwandte
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[52/0072]
Der Goldauer Bergſturz.
trotzig der niederſchlagenden Waſſergüſſe die ſcharfen Kanten und
Spitzen entgegengeſtreckt und heldenmüthig widerſtanden. Es ſind
die gleichen alten Kämpen, die in den Stürmen des Winters,
wenn das quatte, weiche Zellengefüge faſt aller anderen niederen
Phanerogamen gährend ſich zerſetzt, — obgleich marklos, dennoch
aufrecht, wie auf dem Poſten erfrorene Schildwachen daſtehen, und
mit ihren gebleichten nackten Blüthenſchädeln in den allgemeinen
Naturſchlaf hineingrinſen, bis Boreas oder die Wucht des auf ihr
Geripp ſich lagernden Schnees auch ſie umknickt und der übrigen
verweſenden Maſſe beifügt. Ihre Deviſe ſollte ſein: „Treu bis in
den Tod!“ —
Und nun vollends das Proletariat der Vegetation, das ge¬
meine, niedrig am Boden kriechende Volk der Gräſer, dieſes Grund¬
aggregat alles deſſen, was unmittelbar „Nahrung“ liefert, die
breiten ſchilfblätterigen Schwingelarten, die luftigen, kupferroth¬
ſpiegelnden Windhalme, die federbuſchigen Calamagroſten und die
fettlaubigen Hirſegräſer mit ihren geſpreizten krakehligen Aehren¬
dolden, die zarten ſchüchternen Schmielen und die derben behäbigen
Poaceen, wie ſo gänzlich erſchlafft liegen ſie da. Die elaſtiſche,
langausgiebige Widerſtandsfähigkeit, die Muskelkraft der ſchlanken
Rispen iſt gebrochen, — wie von den darüber hinfluthenden Regen¬
bächen glatt gekämmt, ſchmiegen ſie ſich den Bodenformen ſklaviſch
an. Item! Ein allgemeines Betrunkenſein herrſcht in der Pflanzen¬
welt und der Regen hats ihr gezeigt, wie es ausſieht, wenn er
Meiſter iſt. Denn die Regenmenge in den Alpen iſt eine ganz
andere als in den flachen Gegenden. Während die ſüddeutſche
Hochebene jährlich im Durchſchnitt nur 24 bis 25 Zoll Regen hat
und die norddeutſche Tiefebene gar nur 22 Zoll, ſteigt dieſelbe in
den inneren Alpenthälern auf 54 Zoll und auf dem großen St.
Bernhard nach ſiebenjährigem Durchſchnitt gar auf 73 Zoll.
Aber dies Alles charakteriſirt die Eigenthümlichkeiten lang¬
andauernden naſſen Wetters im Gebirge noch nicht allein; verwandte
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/72>, abgerufen am 15.08.2024.
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