Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Goldauer Bergsturz.
Infusorien und vorzeitlicher Schnecken-Panzer, eben so viele und
noch mehr unendlich kleine Fragmente ehemaliger Gebirge: eine
bunte Mischung glasiger Quarzsplitter und farbiger Schieferblätt¬
chen, hellglänzender Glimmerkrystalle und kantiger Porphyrkörn¬
chen, durchsichtiger Feldspathgesteine und dichter Kalkpartikelchen
erscheinen, die hier zu Staub zermalmt einem neuen Umgestaltungs¬
prozesse entgegensehen.

Diese umgestaltende Thätigkeit und die durch dieselbe herbei¬
geführte allmählige Formveränderung unserer Erdrinde kann unser
Auge nur da erkennbar wahrnehmen, wo die im Dienste der Natur¬
kräfte stehenden Bewegungsmittel am Großartigsten sich entfalten:
zunächst am Strande und im Gebirge.

Am Ufer des Meeres, der Binnenseen, ja sogar der Flüsse,
sehen wir neue Ablagerungen von angeschwemmten Erd- und Ge¬
steinssubstanzen, sogenannte Strandbildungen entstehen, -- aus
dem Grunde der oceanischen Gewässer neue Inseln auftauchen, also
das Gebiet des Festlandes sich vergrößern, während an anderen
Orten das ununterbrochene Arbeiten der Wellen, die Brandung,
allmählig feste Felsenwände auswäscht oder ganze Stücken Ufer¬
landes losreißt, um sie in die Tiefe zu versenken.

Dieses Ausebenungsbestreben zeigt sich im Gebirge bei Weitem
in drastischeren Erscheinungen. Jedes rasche Schmelzen des Hoch¬
gebirgsschnees im Frühjahr, jedes heftige, mit großen Regengüssen
verbundene Gewitter, jeder Gletscher auf seinem Rücken, sendet
aus den Höhen alljährlich eine Unzahl von Gesteinstrümmern in
die Schluchten und Tobel, auf die Alpweiden und in die Thal¬
gelände und die an deren Fuße liegenden See- und Meeresbecken
hernieder, die, wenn wir die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu Hülfe
nehmen wollten, innerhalb irgend einer großen Zeitfrist unter Mit¬
hülfe der Atmosphärilien ebenfalls zu einer völligen Ausebenung
von Berg und Thal führen müßten, wenn nicht inzwischen neue,

Der Goldauer Bergſturz.
Infuſorien und vorzeitlicher Schnecken-Panzer, eben ſo viele und
noch mehr unendlich kleine Fragmente ehemaliger Gebirge: eine
bunte Miſchung glaſiger Quarzſplitter und farbiger Schieferblätt¬
chen, hellglänzender Glimmerkryſtalle und kantiger Porphyrkörn¬
chen, durchſichtiger Feldſpathgeſteine und dichter Kalkpartikelchen
erſcheinen, die hier zu Staub zermalmt einem neuen Umgeſtaltungs¬
prozeſſe entgegenſehen.

Dieſe umgeſtaltende Thätigkeit und die durch dieſelbe herbei¬
geführte allmählige Formveränderung unſerer Erdrinde kann unſer
Auge nur da erkennbar wahrnehmen, wo die im Dienſte der Natur¬
kräfte ſtehenden Bewegungsmittel am Großartigſten ſich entfalten:
zunächſt am Strande und im Gebirge.

Am Ufer des Meeres, der Binnenſeen, ja ſogar der Flüſſe,
ſehen wir neue Ablagerungen von angeſchwemmten Erd- und Ge¬
ſteinsſubſtanzen, ſogenannte Strandbildungen entſtehen, — aus
dem Grunde der oceaniſchen Gewäſſer neue Inſeln auftauchen, alſo
das Gebiet des Feſtlandes ſich vergrößern, während an anderen
Orten das ununterbrochene Arbeiten der Wellen, die Brandung,
allmählig feſte Felſenwände auswäſcht oder ganze Stücken Ufer¬
landes losreißt, um ſie in die Tiefe zu verſenken.

Dieſes Ausebenungsbeſtreben zeigt ſich im Gebirge bei Weitem
in draſtiſcheren Erſcheinungen. Jedes raſche Schmelzen des Hoch¬
gebirgsſchnees im Frühjahr, jedes heftige, mit großen Regengüſſen
verbundene Gewitter, jeder Gletſcher auf ſeinem Rücken, ſendet
aus den Höhen alljährlich eine Unzahl von Geſteinstrümmern in
die Schluchten und Tobel, auf die Alpweiden und in die Thal¬
gelände und die an deren Fuße liegenden See- und Meeresbecken
hernieder, die, wenn wir die Wahrſcheinlichkeitsrechnung zu Hülfe
nehmen wollten, innerhalb irgend einer großen Zeitfriſt unter Mit¬
hülfe der Atmoſphärilien ebenfalls zu einer völligen Ausebenung
von Berg und Thal führen müßten, wenn nicht inzwiſchen neue,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0066" n="46"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Goldauer Berg&#x017F;turz</hi>.<lb/></fw>Infu&#x017F;orien und vorzeitlicher Schnecken-Panzer, eben &#x017F;o viele und<lb/>
noch mehr unendlich kleine Fragmente ehemaliger Gebirge: eine<lb/>
bunte Mi&#x017F;chung gla&#x017F;iger Quarz&#x017F;plitter und farbiger Schieferblätt¬<lb/>
chen, hellglänzender Glimmerkry&#x017F;talle und kantiger Porphyrkörn¬<lb/>
chen, durch&#x017F;ichtiger Feld&#x017F;pathge&#x017F;teine und dichter Kalkpartikelchen<lb/>
er&#x017F;cheinen, die hier zu Staub zermalmt einem neuen Umge&#x017F;taltungs¬<lb/>
proze&#x017F;&#x017F;e entgegen&#x017F;ehen.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e umge&#x017F;taltende Thätigkeit und die durch die&#x017F;elbe herbei¬<lb/>
geführte allmählige Formveränderung un&#x017F;erer Erdrinde kann un&#x017F;er<lb/>
Auge nur da erkennbar wahrnehmen, wo die im Dien&#x017F;te der Natur¬<lb/>
kräfte &#x017F;tehenden Bewegungsmittel am Großartig&#x017F;ten &#x017F;ich entfalten:<lb/>
zunäch&#x017F;t am Strande und im Gebirge.</p><lb/>
        <p>Am Ufer des Meeres, der Binnen&#x017F;een, ja &#x017F;ogar der Flü&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
&#x017F;ehen wir neue Ablagerungen von ange&#x017F;chwemmten Erd- und Ge¬<lb/>
&#x017F;teins&#x017F;ub&#x017F;tanzen, &#x017F;ogenannte Strandbildungen ent&#x017F;tehen, &#x2014; aus<lb/>
dem Grunde der oceani&#x017F;chen Gewä&#x017F;&#x017F;er neue In&#x017F;eln auftauchen, al&#x017F;o<lb/>
das Gebiet des Fe&#x017F;tlandes &#x017F;ich vergrößern, während an anderen<lb/>
Orten das ununterbrochene Arbeiten der Wellen, die Brandung,<lb/>
allmählig fe&#x017F;te Fel&#x017F;enwände auswä&#x017F;cht oder ganze Stücken Ufer¬<lb/>
landes losreißt, um &#x017F;ie in die Tiefe zu ver&#x017F;enken.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;es Ausebenungsbe&#x017F;treben zeigt &#x017F;ich im Gebirge bei Weitem<lb/>
in dra&#x017F;ti&#x017F;cheren Er&#x017F;cheinungen. Jedes ra&#x017F;che Schmelzen des Hoch¬<lb/>
gebirgs&#x017F;chnees im Frühjahr, jedes heftige, mit großen Regengü&#x017F;&#x017F;en<lb/>
verbundene Gewitter, jeder Glet&#x017F;cher auf &#x017F;einem Rücken, &#x017F;endet<lb/>
aus den Höhen alljährlich eine Unzahl von Ge&#x017F;teinstrümmern in<lb/>
die Schluchten und Tobel, auf die Alpweiden und in die Thal¬<lb/>
gelände und die an deren Fuße liegenden See- und Meeresbecken<lb/>
hernieder, die, wenn wir die Wahr&#x017F;cheinlichkeitsrechnung zu Hülfe<lb/>
nehmen wollten, innerhalb irgend einer großen Zeitfri&#x017F;t unter Mit¬<lb/>
hülfe der Atmo&#x017F;phärilien ebenfalls zu einer völligen Ausebenung<lb/>
von Berg und Thal führen müßten, wenn nicht inzwi&#x017F;chen neue,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0066] Der Goldauer Bergſturz. Infuſorien und vorzeitlicher Schnecken-Panzer, eben ſo viele und noch mehr unendlich kleine Fragmente ehemaliger Gebirge: eine bunte Miſchung glaſiger Quarzſplitter und farbiger Schieferblätt¬ chen, hellglänzender Glimmerkryſtalle und kantiger Porphyrkörn¬ chen, durchſichtiger Feldſpathgeſteine und dichter Kalkpartikelchen erſcheinen, die hier zu Staub zermalmt einem neuen Umgeſtaltungs¬ prozeſſe entgegenſehen. Dieſe umgeſtaltende Thätigkeit und die durch dieſelbe herbei¬ geführte allmählige Formveränderung unſerer Erdrinde kann unſer Auge nur da erkennbar wahrnehmen, wo die im Dienſte der Natur¬ kräfte ſtehenden Bewegungsmittel am Großartigſten ſich entfalten: zunächſt am Strande und im Gebirge. Am Ufer des Meeres, der Binnenſeen, ja ſogar der Flüſſe, ſehen wir neue Ablagerungen von angeſchwemmten Erd- und Ge¬ ſteinsſubſtanzen, ſogenannte Strandbildungen entſtehen, — aus dem Grunde der oceaniſchen Gewäſſer neue Inſeln auftauchen, alſo das Gebiet des Feſtlandes ſich vergrößern, während an anderen Orten das ununterbrochene Arbeiten der Wellen, die Brandung, allmählig feſte Felſenwände auswäſcht oder ganze Stücken Ufer¬ landes losreißt, um ſie in die Tiefe zu verſenken. Dieſes Ausebenungsbeſtreben zeigt ſich im Gebirge bei Weitem in draſtiſcheren Erſcheinungen. Jedes raſche Schmelzen des Hoch¬ gebirgsſchnees im Frühjahr, jedes heftige, mit großen Regengüſſen verbundene Gewitter, jeder Gletſcher auf ſeinem Rücken, ſendet aus den Höhen alljährlich eine Unzahl von Geſteinstrümmern in die Schluchten und Tobel, auf die Alpweiden und in die Thal¬ gelände und die an deren Fuße liegenden See- und Meeresbecken hernieder, die, wenn wir die Wahrſcheinlichkeitsrechnung zu Hülfe nehmen wollten, innerhalb irgend einer großen Zeitfriſt unter Mit¬ hülfe der Atmoſphärilien ebenfalls zu einer völligen Ausebenung von Berg und Thal führen müßten, wenn nicht inzwiſchen neue,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/66
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/66>, abgerufen am 25.11.2024.