Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Dorfleben im Gebirge . die schöne Sitte, mit großem festlichen Zuge unter Begleitung be¬kränzter Brautjungfern, die spielenden Musikanten vorauf, zur Kirche zu gehen. Die Art, wie einst der Klostermeir von Mörli¬ schachen den Brautlauf hielt, als er die Braut von Immensee (Schillers Tell, IV. Akt, 3. Scene), abholte, ist längst außer Brauch gekommen. Auch in die Berge ist die Verflachung gedrungen und hat mit der Beseitigung der alten, nationalen Tracht auch manche schöne Sitte entfernt. Nur noch das Schießen auf dem Kirchwege aus alten, halb verrosteten Böllern, Pistolen oder Mus¬ keten, oder gar aus hohlgebohrten, in die Erde gegrabenen Holz¬ röhren wird noch ziemlich allgemein praktizirt und ruft im taumeln¬ den Freudenrausch durch Unvorsichtigkeit manche Schreckensstunde hervor. Der Sonntag in Gebirgsdörfern hat etwas ungemein Er¬ Dorfleben im Gebirge . die ſchöne Sitte, mit großem feſtlichen Zuge unter Begleitung be¬kränzter Brautjungfern, die ſpielenden Muſikanten vorauf, zur Kirche zu gehen. Die Art, wie einſt der Kloſtermeir von Mörli¬ ſchachen den Brautlauf hielt, als er die Braut von Immenſee (Schillers Tell, IV. Akt, 3. Scene), abholte, iſt längſt außer Brauch gekommen. Auch in die Berge iſt die Verflachung gedrungen und hat mit der Beſeitigung der alten, nationalen Tracht auch manche ſchöne Sitte entfernt. Nur noch das Schießen auf dem Kirchwege aus alten, halb verroſteten Böllern, Piſtolen oder Mus¬ keten, oder gar aus hohlgebohrten, in die Erde gegrabenen Holz¬ röhren wird noch ziemlich allgemein praktizirt und ruft im taumeln¬ den Freudenrauſch durch Unvorſichtigkeit manche Schreckensſtunde hervor. Der Sonntag in Gebirgsdörfern hat etwas ungemein Er¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0489" n="439"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Dorfleben im Gebirge</hi><hi rendition="#g">.</hi><lb/></fw>die ſchöne Sitte, mit großem feſtlichen Zuge unter Begleitung be¬<lb/> kränzter Brautjungfern, die ſpielenden Muſikanten vorauf, zur<lb/> Kirche zu gehen. Die Art, wie einſt der Kloſtermeir von Mörli¬<lb/> ſchachen den Brautlauf hielt, als er die Braut von Immenſee<lb/> (Schillers Tell, <hi rendition="#aq">IV</hi>. Akt, 3. Scene), abholte, iſt längſt außer Brauch<lb/> gekommen. Auch in die Berge iſt die Verflachung gedrungen<lb/> und hat mit der Beſeitigung der alten, nationalen Tracht auch<lb/> manche ſchöne Sitte entfernt. Nur noch das Schießen auf dem<lb/> Kirchwege aus alten, halb verroſteten Böllern, Piſtolen oder Mus¬<lb/> keten, oder gar aus hohlgebohrten, in die Erde gegrabenen Holz¬<lb/> röhren wird noch ziemlich allgemein praktizirt und ruft im taumeln¬<lb/> den Freudenrauſch durch Unvorſichtigkeit manche Schreckensſtunde<lb/> hervor.</p><lb/> <p>Der Sonntag in Gebirgsdörfern hat etwas ungemein Er¬<lb/> hebendes, Feierliches. Es iſt, als ob die ganze Natur den Feſttag<lb/> mit begehe. Die gleichen wunderbar-akuſtiſchen Schallwände, welche<lb/> den Ton des Alpenhornes ſo zauberhaft-modulirt wiedergeben,<lb/> reflektiren auch das Glockengeläute in den Alpenthälern auf nicht<lb/> zu beſchreibende Weiſe. Der Klang ſcheint den Metallton zu ver¬<lb/> lieren und nimmt dagegen eine intenſiver-gefüllte, innigere, wär¬<lb/> mere Tonfülle an, wie ſie den kryſtallenen Glasglocken eigen iſt.<lb/> Auf etwas erhöhtem Punkt ob einem Alpſee-Geſtade an hellem<lb/> Sommer-Morgen zur Kirche lauten zu hören, wie die rufenden und<lb/> antwortenden Glocken von hüben und drüben ihre Klänge weit<lb/> hinein in die Schluchten und Thaltiefen ſenden, und die ganze<lb/> Landſchaft rundumher in wonniger Ruhe den Tönen lauſcht, gehört<lb/> zu den ſinnigſten Genüſſen, welche die Bergwelt dem empfänglichen<lb/> Gemüthe zu geben vermag. Da ſtrömt es denn herbei aus allen<lb/> Winkeln und hervor aus den dunkelen Tobeln und herab von den<lb/> braunen Holzhütten über die maigrünen Matten, das Volk in ſeinem<lb/> ländlichen Sonntagsſtaat. Die Weiber und Mädchen, je nach der<lb/> Thalſchaft Gebrauch, ernſt und ſchwarz, im dicht gefältelten Loden¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [439/0489]
Dorfleben im Gebirge .
die ſchöne Sitte, mit großem feſtlichen Zuge unter Begleitung be¬
kränzter Brautjungfern, die ſpielenden Muſikanten vorauf, zur
Kirche zu gehen. Die Art, wie einſt der Kloſtermeir von Mörli¬
ſchachen den Brautlauf hielt, als er die Braut von Immenſee
(Schillers Tell, IV. Akt, 3. Scene), abholte, iſt längſt außer Brauch
gekommen. Auch in die Berge iſt die Verflachung gedrungen
und hat mit der Beſeitigung der alten, nationalen Tracht auch
manche ſchöne Sitte entfernt. Nur noch das Schießen auf dem
Kirchwege aus alten, halb verroſteten Böllern, Piſtolen oder Mus¬
keten, oder gar aus hohlgebohrten, in die Erde gegrabenen Holz¬
röhren wird noch ziemlich allgemein praktizirt und ruft im taumeln¬
den Freudenrauſch durch Unvorſichtigkeit manche Schreckensſtunde
hervor.
Der Sonntag in Gebirgsdörfern hat etwas ungemein Er¬
hebendes, Feierliches. Es iſt, als ob die ganze Natur den Feſttag
mit begehe. Die gleichen wunderbar-akuſtiſchen Schallwände, welche
den Ton des Alpenhornes ſo zauberhaft-modulirt wiedergeben,
reflektiren auch das Glockengeläute in den Alpenthälern auf nicht
zu beſchreibende Weiſe. Der Klang ſcheint den Metallton zu ver¬
lieren und nimmt dagegen eine intenſiver-gefüllte, innigere, wär¬
mere Tonfülle an, wie ſie den kryſtallenen Glasglocken eigen iſt.
Auf etwas erhöhtem Punkt ob einem Alpſee-Geſtade an hellem
Sommer-Morgen zur Kirche lauten zu hören, wie die rufenden und
antwortenden Glocken von hüben und drüben ihre Klänge weit
hinein in die Schluchten und Thaltiefen ſenden, und die ganze
Landſchaft rundumher in wonniger Ruhe den Tönen lauſcht, gehört
zu den ſinnigſten Genüſſen, welche die Bergwelt dem empfänglichen
Gemüthe zu geben vermag. Da ſtrömt es denn herbei aus allen
Winkeln und hervor aus den dunkelen Tobeln und herab von den
braunen Holzhütten über die maigrünen Matten, das Volk in ſeinem
ländlichen Sonntagsſtaat. Die Weiber und Mädchen, je nach der
Thalſchaft Gebrauch, ernſt und ſchwarz, im dicht gefältelten Loden¬
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