Pfarrer oder Kaplan zugleich auch Pfleger der Hunger- und Durst- Bedürfnisse fremder Wanderer; im Wallis, im Kanton Unterwalden und noch in anderen Gegenden, ist der Weinzapfen und der Käse¬ laib ein Accidenz-Erwerb der Geistlichen.
Es giebt eine große Menge von Alpendörfern, in denen die äußerste Einsamkeit und das absoluteste Stillleben sich niederge¬ lassen haben; wohl aber wenige werden vom Rofnerhof am Oetz¬ thaler Ferner in Tyrol übertroffen, wo einst der vom Konzil zu Konstanz geächtete Herzog von Oesterreich, Friedrich mit der leeren Tasche, ein verborgenes Asyl fand. Vier Brüder wirthschaften dort miteinander und üben alle Handwerke gemeinsam aus, die sie für ihren Lebensbedarf beanspruchen müssen; wie eine robinsonsche Kolonie, sind sie von allem Verkehr ziemlich abgeschlossen, und der Winter in dieser Höhenlage von mehr als 6000 Fuß über dem Meeresspiegel trennt sie für fast halbjährige Frist von den nächsten Nachbarn.
Bei aller dieser Abgeschiedenheit von der lärmenden, in Ge¬ nüssen sich überstürzenden Außenwelt gehts dennoch in manchen Alpengegenden, je nach des Volkes Temperament und Sitten, zu Zeiten ganz fröhlich und vergnüglich her. Der sommerlichen länd¬ lichen Feste, der Alpen-Auffahrt, des "Goh-Messe" Tages, der Schwingeten und Alpstubeten wurde schon ausführlicher gedacht; aber damit begnügt sich das Bergvölklein noch nicht. Auch wenn die Herden wohlbehalten und gemästet von den hohen Triften heimgekehrt sind, feiert Alt und Jung die Wiederkunft der Haus¬ genossen; das ist die Aelpler-Kilbi, die mit dem Kirchweihfest an manchen Orten zusammenfällt. Da gehts denn ländlich, sittlich her. In manchen Thälern des Wallis bringen sie den Decem dem Pfarrer ins Haus, bestehend aus großen, fetten Käsen; Wohlehr¬ würden regalirt dagegen die Spender mit einem festen, wohlberei¬ teten Mittagsmahl, bei dem es dann am Weine nicht fehlen darf. Im Kanton Unterwalden zieht die ganze Sennenschaar mit Blumen¬
Dorfleben im Gebirge.
Pfarrer oder Kaplan zugleich auch Pfleger der Hunger- und Durſt- Bedürfniſſe fremder Wanderer; im Wallis, im Kanton Unterwalden und noch in anderen Gegenden, iſt der Weinzapfen und der Käſe¬ laib ein Accidenz-Erwerb der Geiſtlichen.
Es giebt eine große Menge von Alpendörfern, in denen die äußerſte Einſamkeit und das abſoluteſte Stillleben ſich niederge¬ laſſen haben; wohl aber wenige werden vom Rofnerhof am Oetz¬ thaler Ferner in Tyrol übertroffen, wo einſt der vom Konzil zu Konſtanz geächtete Herzog von Oeſterreich, Friedrich mit der leeren Taſche, ein verborgenes Aſyl fand. Vier Brüder wirthſchaften dort miteinander und üben alle Handwerke gemeinſam aus, die ſie für ihren Lebensbedarf beanſpruchen müſſen; wie eine robinſonſche Kolonie, ſind ſie von allem Verkehr ziemlich abgeſchloſſen, und der Winter in dieſer Höhenlage von mehr als 6000 Fuß über dem Meeresſpiegel trennt ſie für faſt halbjährige Friſt von den nächſten Nachbarn.
Bei aller dieſer Abgeſchiedenheit von der lärmenden, in Ge¬ nüſſen ſich überſtürzenden Außenwelt gehts dennoch in manchen Alpengegenden, je nach des Volkes Temperament und Sitten, zu Zeiten ganz fröhlich und vergnüglich her. Der ſommerlichen länd¬ lichen Feſte, der Alpen-Auffahrt, des „Goh-Meſſe“ Tages, der Schwingeten und Alpſtubeten wurde ſchon ausführlicher gedacht; aber damit begnügt ſich das Bergvölklein noch nicht. Auch wenn die Herden wohlbehalten und gemäſtet von den hohen Triften heimgekehrt ſind, feiert Alt und Jung die Wiederkunft der Haus¬ genoſſen; das iſt die Aelpler-Kilbi, die mit dem Kirchweihfeſt an manchen Orten zuſammenfällt. Da gehts denn ländlich, ſittlich her. In manchen Thälern des Wallis bringen ſie den Decem dem Pfarrer ins Haus, beſtehend aus großen, fetten Käſen; Wohlehr¬ würden regalirt dagegen die Spender mit einem feſten, wohlberei¬ teten Mittagsmahl, bei dem es dann am Weine nicht fehlen darf. Im Kanton Unterwalden zieht die ganze Sennenſchaar mit Blumen¬
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Dorfleben im Gebirge.
Pfarrer oder Kaplan zugleich auch Pfleger der Hunger- und Durſt-
Bedürfniſſe fremder Wanderer; im Wallis, im Kanton Unterwalden
und noch in anderen Gegenden, iſt der Weinzapfen und der Käſe¬
laib ein Accidenz-Erwerb der Geiſtlichen.
Es giebt eine große Menge von Alpendörfern, in denen die
äußerſte Einſamkeit und das abſoluteſte Stillleben ſich niederge¬
laſſen haben; wohl aber wenige werden vom Rofnerhof am Oetz¬
thaler Ferner in Tyrol übertroffen, wo einſt der vom Konzil zu
Konſtanz geächtete Herzog von Oeſterreich, Friedrich mit der leeren
Taſche, ein verborgenes Aſyl fand. Vier Brüder wirthſchaften
dort miteinander und üben alle Handwerke gemeinſam aus, die ſie
für ihren Lebensbedarf beanſpruchen müſſen; wie eine robinſonſche
Kolonie, ſind ſie von allem Verkehr ziemlich abgeſchloſſen, und der
Winter in dieſer Höhenlage von mehr als 6000 Fuß über dem
Meeresſpiegel trennt ſie für faſt halbjährige Friſt von den nächſten
Nachbarn.
Bei aller dieſer Abgeſchiedenheit von der lärmenden, in Ge¬
nüſſen ſich überſtürzenden Außenwelt gehts dennoch in manchen
Alpengegenden, je nach des Volkes Temperament und Sitten, zu
Zeiten ganz fröhlich und vergnüglich her. Der ſommerlichen länd¬
lichen Feſte, der Alpen-Auffahrt, des „Goh-Meſſe“ Tages, der
Schwingeten und Alpſtubeten wurde ſchon ausführlicher gedacht;
aber damit begnügt ſich das Bergvölklein noch nicht. Auch wenn
die Herden wohlbehalten und gemäſtet von den hohen Triften
heimgekehrt ſind, feiert Alt und Jung die Wiederkunft der Haus¬
genoſſen; das iſt die Aelpler-Kilbi, die mit dem Kirchweihfeſt an
manchen Orten zuſammenfällt. Da gehts denn ländlich, ſittlich
her. In manchen Thälern des Wallis bringen ſie den Decem dem
Pfarrer ins Haus, beſtehend aus großen, fetten Käſen; Wohlehr¬
würden regalirt dagegen die Spender mit einem feſten, wohlberei¬
teten Mittagsmahl, bei dem es dann am Weine nicht fehlen darf.
Im Kanton Unterwalden zieht die ganze Sennenſchaar mit Blumen¬
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/484>, abgerufen am 24.11.2024.
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