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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Wildheuer.
des armen Mannes. Mitunter folgt ihm eine Ziege als getreue
Genossin und milchspendende Quelle in seine Einsamkeit. So
gehts durch die Nacht fort, bergauf. Wie es dämmert, "juheit"
er mit schmetternder Stimme in die schweigende Felsenwelt hinein,
an welcher er auf schmalem Pfade emporklimmt. Weich moduli¬
rend wirft das Echo den dargebrachten Morgengruß zurück, und
von verschiedenen Seiten, von nah und fern, antworten die Stim¬
men anderer Kameraden, die auf gleicher Bergfahrt begriffen sind.
Es geschieht aus Ungeduld und Besorgniß, um auszukundschaften,
ob ihm nicht ein Anderer zuvorgekommen sei. Denn zu Schutz
und Trutz muß der Wildheuer gerüstet sein, nicht nur gegen die
Unwirthlichkeit der Gebirgsnatur, sondern auch gegen seinesgleichen,
gegen den Konkurrenten seines Erwerbes, der ihm vielleicht den
Platz streitig machen will. Da hats schon blutige Kämpfe gesetzt,
dicht am Abgrunde, da wo jeder unbewachte Tritt über die Schwelle
zur Ewigkeit führen kann.

Das Heuen ist aber außer den genannten, noch von anderen
Fährlichkeiten bedroht. Schon mancher Wildheuer wurde von her¬
abstürzenden Steinen erschlagen, die von höher gelegenen Felsen¬
wänden abbröckelten; andere ereilte der Tod, wenn sie die vom
schweren Gewitterregen urplötzlich hochangeschwellten Runsen durch¬
waten wollten, ausglitten und vom jagenden Wildwasser fortge¬
rissen wurden. Oder jäher Schneefall, der auf Höhen von 6000
Fuß und darüber im Hochsommer keine seltene Erscheinung ist,
überdeckt und verkittet die schmalen Felsenbänder binnen wenig
Minuten dermaßen, daß über dieselben hinabzusteigen fast unmög¬
lich wird. Und solche Quergurte sind an den vertikal aufstreben¬
den Riesenkörpern der Berge meist die einzigen natürlichen Zu¬
gänge, deren der Wildheuer sich bedienen kann, um zu seinen
"Fluhsätzen" oder "Bergbetten" zu gelangen.

Je wärmer und beständiger die Witterung im August und
September ist, desto reichlicher fällt auch die Bergheu-Ernte aus,

Der Wildheuer.
des armen Mannes. Mitunter folgt ihm eine Ziege als getreue
Genoſſin und milchſpendende Quelle in ſeine Einſamkeit. So
gehts durch die Nacht fort, bergauf. Wie es dämmert, „juheit“
er mit ſchmetternder Stimme in die ſchweigende Felſenwelt hinein,
an welcher er auf ſchmalem Pfade emporklimmt. Weich moduli¬
rend wirft das Echo den dargebrachten Morgengruß zurück, und
von verſchiedenen Seiten, von nah und fern, antworten die Stim¬
men anderer Kameraden, die auf gleicher Bergfahrt begriffen ſind.
Es geſchieht aus Ungeduld und Beſorgniß, um auszukundſchaften,
ob ihm nicht ein Anderer zuvorgekommen ſei. Denn zu Schutz
und Trutz muß der Wildheuer gerüſtet ſein, nicht nur gegen die
Unwirthlichkeit der Gebirgsnatur, ſondern auch gegen ſeinesgleichen,
gegen den Konkurrenten ſeines Erwerbes, der ihm vielleicht den
Platz ſtreitig machen will. Da hats ſchon blutige Kämpfe geſetzt,
dicht am Abgrunde, da wo jeder unbewachte Tritt über die Schwelle
zur Ewigkeit führen kann.

Das Heuen iſt aber außer den genannten, noch von anderen
Fährlichkeiten bedroht. Schon mancher Wildheuer wurde von her¬
abſtürzenden Steinen erſchlagen, die von höher gelegenen Felſen¬
wänden abbröckelten; andere ereilte der Tod, wenn ſie die vom
ſchweren Gewitterregen urplötzlich hochangeſchwellten Runſen durch¬
waten wollten, ausglitten und vom jagenden Wildwaſſer fortge¬
riſſen wurden. Oder jäher Schneefall, der auf Höhen von 6000
Fuß und darüber im Hochſommer keine ſeltene Erſcheinung iſt,
überdeckt und verkittet die ſchmalen Felſenbänder binnen wenig
Minuten dermaßen, daß über dieſelben hinabzuſteigen faſt unmög¬
lich wird. Und ſolche Quergurte ſind an den vertikal aufſtreben¬
den Rieſenkörpern der Berge meiſt die einzigen natürlichen Zu¬
gänge, deren der Wildheuer ſich bedienen kann, um zu ſeinen
„Fluhſätzen“ oder „Bergbetten“ zu gelangen.

Je wärmer und beſtändiger die Witterung im Auguſt und
September iſt, deſto reichlicher fällt auch die Bergheu-Ernte aus,

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[377/0419] Der Wildheuer. des armen Mannes. Mitunter folgt ihm eine Ziege als getreue Genoſſin und milchſpendende Quelle in ſeine Einſamkeit. So gehts durch die Nacht fort, bergauf. Wie es dämmert, „juheit“ er mit ſchmetternder Stimme in die ſchweigende Felſenwelt hinein, an welcher er auf ſchmalem Pfade emporklimmt. Weich moduli¬ rend wirft das Echo den dargebrachten Morgengruß zurück, und von verſchiedenen Seiten, von nah und fern, antworten die Stim¬ men anderer Kameraden, die auf gleicher Bergfahrt begriffen ſind. Es geſchieht aus Ungeduld und Beſorgniß, um auszukundſchaften, ob ihm nicht ein Anderer zuvorgekommen ſei. Denn zu Schutz und Trutz muß der Wildheuer gerüſtet ſein, nicht nur gegen die Unwirthlichkeit der Gebirgsnatur, ſondern auch gegen ſeinesgleichen, gegen den Konkurrenten ſeines Erwerbes, der ihm vielleicht den Platz ſtreitig machen will. Da hats ſchon blutige Kämpfe geſetzt, dicht am Abgrunde, da wo jeder unbewachte Tritt über die Schwelle zur Ewigkeit führen kann. Das Heuen iſt aber außer den genannten, noch von anderen Fährlichkeiten bedroht. Schon mancher Wildheuer wurde von her¬ abſtürzenden Steinen erſchlagen, die von höher gelegenen Felſen¬ wänden abbröckelten; andere ereilte der Tod, wenn ſie die vom ſchweren Gewitterregen urplötzlich hochangeſchwellten Runſen durch¬ waten wollten, ausglitten und vom jagenden Wildwaſſer fortge¬ riſſen wurden. Oder jäher Schneefall, der auf Höhen von 6000 Fuß und darüber im Hochſommer keine ſeltene Erſcheinung iſt, überdeckt und verkittet die ſchmalen Felſenbänder binnen wenig Minuten dermaßen, daß über dieſelben hinabzuſteigen faſt unmög¬ lich wird. Und ſolche Quergurte ſind an den vertikal aufſtreben¬ den Rieſenkörpern der Berge meiſt die einzigen natürlichen Zu¬ gänge, deren der Wildheuer ſich bedienen kann, um zu ſeinen „Fluhſätzen“ oder „Bergbetten“ zu gelangen. Je wärmer und beſtändiger die Witterung im Auguſt und September iſt, deſto reichlicher fällt auch die Bergheu-Ernte aus,

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/419>, abgerufen am 25.11.2024.