So wenig beneidenswerth das Loos eines alpinen Geißbuben auch erscheinen mag, so ists dennoch ein gemächliches und freund¬ liches gegenüber dem von manchen Schaafhirten in den Alpen. Wir meinen hierbei nicht die Bergamasker Schäfer, die auch außer¬ ordentlich frugal leben und sich nicht getrauen von ihren selbst producirten Käsen zu essen; sondern jene, in einer freiwilligen Verbannung den Sommer verlebenden Schaafhirten wie am Zäsen¬ berg unterm Eiger und ähnliche. Der Zäsenberg liegt in der Tiefe des unteren Grindelwaldgletschers, gegenüber von den Schreck¬ hörnern, und ist rings vom Eis umgeben. Hier wirthschaften zwei Hirten mit einem Buben, mehreren hundert Schaafen und einigen Ziegen. Die eine ihrer Sennhütten ist unter einem Granitblock ausgegraben, und die andere schmiegt sich an diese, aus roh über¬ einander gelegten Gneisscherben errichtet, an. Die Genügsamkeit dieser Hirten übersteigt, nach Hugi's Versicherung, der sie besuchte, alle Begriffe. Zwei kleine Kübel und eine Pfanne sind die ganzen Geräthschaften des einen Hirten. Der andere, welcher kleine Schaafkäse bereitet, hat ein paar Stückchen Hausrath mehr, Alles aber in urthümlichster Einfachheit. Das Holz muß mehr als zwei Stunden weit übers Eismeer heraufgetragen werden; nichtsdesto¬ weniger gehen sie mit ihrem Bischen künstlicher Wärme sehr ver¬ schwenderisch um und stopfen nicht einmal die Klinsen zwischen den Steinen mit Moos oder Heu aus, um die Wärme zusammen¬ zuhalten. Alles Denken, alles Weiterstreben scheint hier aufzu¬ hören, und über die vorzeitlichen Einrichtungen hinaus wird Neue¬ rungen kein Zutritt gestattet. Vom fröhlichen Leben, das auf an¬ deren Alpen herrscht, ist hier nicht die mindeste Spur. Die Sprache scheint den Leuten eingefroren zu sein; ihr ganzes Wesen ist so frostig und kalt wie die wilde, große Eisnatur, welche sie umgiebt. Kein Mensch kommt zu ihnen hierher, und begegnets, daß einmal Touristen über die Strahlegg kommen, die sie von ferne sehen, so ists ein Ereigniß in dieser gewaltigen Einöde; zu keinem Dorfe
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Der Geißbub.
So wenig beneidenswerth das Loos eines alpinen Geißbuben auch erſcheinen mag, ſo iſts dennoch ein gemächliches und freund¬ liches gegenüber dem von manchen Schaafhirten in den Alpen. Wir meinen hierbei nicht die Bergamasker Schäfer, die auch außer¬ ordentlich frugal leben und ſich nicht getrauen von ihren ſelbſt producirten Käſen zu eſſen; ſondern jene, in einer freiwilligen Verbannung den Sommer verlebenden Schaafhirten wie am Zäſen¬ berg unterm Eiger und ähnliche. Der Zäſenberg liegt in der Tiefe des unteren Grindelwaldgletſchers, gegenüber von den Schreck¬ hörnern, und iſt rings vom Eis umgeben. Hier wirthſchaften zwei Hirten mit einem Buben, mehreren hundert Schaafen und einigen Ziegen. Die eine ihrer Sennhütten iſt unter einem Granitblock ausgegraben, und die andere ſchmiegt ſich an dieſe, aus roh über¬ einander gelegten Gneisſcherben errichtet, an. Die Genügſamkeit dieſer Hirten überſteigt, nach Hugi's Verſicherung, der ſie beſuchte, alle Begriffe. Zwei kleine Kübel und eine Pfanne ſind die ganzen Geräthſchaften des einen Hirten. Der andere, welcher kleine Schaafkäſe bereitet, hat ein paar Stückchen Hausrath mehr, Alles aber in urthümlichſter Einfachheit. Das Holz muß mehr als zwei Stunden weit übers Eismeer heraufgetragen werden; nichtsdeſto¬ weniger gehen ſie mit ihrem Bischen künſtlicher Wärme ſehr ver¬ ſchwenderiſch um und ſtopfen nicht einmal die Klinſen zwiſchen den Steinen mit Moos oder Heu aus, um die Wärme zuſammen¬ zuhalten. Alles Denken, alles Weiterſtreben ſcheint hier aufzu¬ hören, und über die vorzeitlichen Einrichtungen hinaus wird Neue¬ rungen kein Zutritt geſtattet. Vom fröhlichen Leben, das auf an¬ deren Alpen herrſcht, iſt hier nicht die mindeſte Spur. Die Sprache ſcheint den Leuten eingefroren zu ſein; ihr ganzes Weſen iſt ſo froſtig und kalt wie die wilde, große Eisnatur, welche ſie umgiebt. Kein Menſch kommt zu ihnen hierher, und begegnets, daß einmal Touriſten über die Strahlegg kommen, die ſie von ferne ſehen, ſo iſts ein Ereigniß in dieſer gewaltigen Einöde; zu keinem Dorfe
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Der Geißbub.
So wenig beneidenswerth das Loos eines alpinen Geißbuben
auch erſcheinen mag, ſo iſts dennoch ein gemächliches und freund¬
liches gegenüber dem von manchen Schaafhirten in den Alpen.
Wir meinen hierbei nicht die Bergamasker Schäfer, die auch außer¬
ordentlich frugal leben und ſich nicht getrauen von ihren ſelbſt
producirten Käſen zu eſſen; ſondern jene, in einer freiwilligen
Verbannung den Sommer verlebenden Schaafhirten wie am Zäſen¬
berg unterm Eiger und ähnliche. Der Zäſenberg liegt in der
Tiefe des unteren Grindelwaldgletſchers, gegenüber von den Schreck¬
hörnern, und iſt rings vom Eis umgeben. Hier wirthſchaften zwei
Hirten mit einem Buben, mehreren hundert Schaafen und einigen
Ziegen. Die eine ihrer Sennhütten iſt unter einem Granitblock
ausgegraben, und die andere ſchmiegt ſich an dieſe, aus roh über¬
einander gelegten Gneisſcherben errichtet, an. Die Genügſamkeit
dieſer Hirten überſteigt, nach Hugi's Verſicherung, der ſie beſuchte,
alle Begriffe. Zwei kleine Kübel und eine Pfanne ſind die ganzen
Geräthſchaften des einen Hirten. Der andere, welcher kleine
Schaafkäſe bereitet, hat ein paar Stückchen Hausrath mehr, Alles
aber in urthümlichſter Einfachheit. Das Holz muß mehr als zwei
Stunden weit übers Eismeer heraufgetragen werden; nichtsdeſto¬
weniger gehen ſie mit ihrem Bischen künſtlicher Wärme ſehr ver¬
ſchwenderiſch um und ſtopfen nicht einmal die Klinſen zwiſchen
den Steinen mit Moos oder Heu aus, um die Wärme zuſammen¬
zuhalten. Alles Denken, alles Weiterſtreben ſcheint hier aufzu¬
hören, und über die vorzeitlichen Einrichtungen hinaus wird Neue¬
rungen kein Zutritt geſtattet. Vom fröhlichen Leben, das auf an¬
deren Alpen herrſcht, iſt hier nicht die mindeſte Spur. Die Sprache
ſcheint den Leuten eingefroren zu ſein; ihr ganzes Weſen iſt ſo
froſtig und kalt wie die wilde, große Eisnatur, welche ſie umgiebt.
Kein Menſch kommt zu ihnen hierher, und begegnets, daß einmal
Touriſten über die Strahlegg kommen, die ſie von ferne ſehen, ſo
iſts ein Ereigniß in dieſer gewaltigen Einöde; zu keinem Dorfe
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/411>, abgerufen am 22.11.2024.
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