in die er sich flüchtet. Ists aber ein kalter, regnerischer Sommer, dann hat der arme, barfußlaufende Tropf höchstens einen alten Sack über die Schultern zum Schutz gegen die Nässe. Dessen un¬ geachtet ist er fröhlich und scheint die Unbilden der Witterung wenig zu fühlen. Abends dann treibt er heim, hat seinen Hut mit Alpenblumen geschmückt, und kehrt so frisch und kräftig ins Dorf zurück, als er am Morgen auszog. So gehts vom frühen Frühjahr bis in den Spätherbst. Und als baaren Lohn erhält er fürs Stück jährlich zwei bis drei Batzen. Es gehört eben Gei߬ bubenstoff zu solch einem Menschen.
Am Südabhange der Alpen giebts große prachtvolle, lang¬ haarige Thiere. Im Herbst, wenn sie keine Milch mehr geben, werden sie in die Wälder getrieben, ohne Aufsicht und Huth sich selber überlassen, und erst im Frühjahr, wenn sie dem Gitzelen nahe sind, halb verwildert wieder eingefangen. Nach Belgien, Frank¬ reich und England werden die zarten Ziegenfelle in großen Massen zur Verwendung für Glace-Handschuhe ausgeführt. Ob wohl eine unserer schönen Leserinnen schon je daran gedacht hat, wenn sie ihre feinen, weichen, dehnbaren und parfümirten Handschuhe anzog, daß der Stoff dazu aus den wildesten und entlegensten Gegenden der Alpen stamme, wo die "Gizzi" und ihr Bub ein armseliges, dürftiges, aber freies Leben fristen?
Das Geißhirtenleben hat auch seine schauerlich-romantische Seite. Wenn Nachts die Eulen in den Wäldern schreien, daß es wie ein höllisches Jauchzen klingt, ähnlich wie mans beim Heuet in den Bergen hört, dann sagt das Volk, es sei "der wilde Gei߬ ler." Mit dem soll es folgende Bewandniß haben. Ein großer Geißbube, der vor Uebermuth und Langeweile oft nicht wußte, womit er die Zeit sich vertreiben sollte und schon tausend tolle Streiche mit seinen Thieren begonnen hatte, gerieth auf den Ein¬ fall, einen großen, starken Bock zu kreuzigen, d. h. ihn an ein aus rohen Baumstämmen improvisirtes Kreuz mit Schlingpflanzen oder
Berlepsch, die Alpen. 24
Der Geißbub.
in die er ſich flüchtet. Iſts aber ein kalter, regneriſcher Sommer, dann hat der arme, barfußlaufende Tropf höchſtens einen alten Sack über die Schultern zum Schutz gegen die Näſſe. Deſſen un¬ geachtet iſt er fröhlich und ſcheint die Unbilden der Witterung wenig zu fühlen. Abends dann treibt er heim, hat ſeinen Hut mit Alpenblumen geſchmückt, und kehrt ſo friſch und kräftig ins Dorf zurück, als er am Morgen auszog. So gehts vom frühen Frühjahr bis in den Spätherbſt. Und als baaren Lohn erhält er fürs Stück jährlich zwei bis drei Batzen. Es gehört eben Gei߬ bubenſtoff zu ſolch einem Menſchen.
Am Südabhange der Alpen giebts große prachtvolle, lang¬ haarige Thiere. Im Herbſt, wenn ſie keine Milch mehr geben, werden ſie in die Wälder getrieben, ohne Aufſicht und Huth ſich ſelber überlaſſen, und erſt im Frühjahr, wenn ſie dem Gitzelen nahe ſind, halb verwildert wieder eingefangen. Nach Belgien, Frank¬ reich und England werden die zarten Ziegenfelle in großen Maſſen zur Verwendung für Glacé-Handſchuhe ausgeführt. Ob wohl eine unſerer ſchönen Leſerinnen ſchon je daran gedacht hat, wenn ſie ihre feinen, weichen, dehnbaren und parfümirten Handſchuhe anzog, daß der Stoff dazu aus den wildeſten und entlegenſten Gegenden der Alpen ſtamme, wo die „Gizzi“ und ihr Bub ein armſeliges, dürftiges, aber freies Leben friſten?
Das Geißhirtenleben hat auch ſeine ſchauerlich-romantiſche Seite. Wenn Nachts die Eulen in den Wäldern ſchreien, daß es wie ein hölliſches Jauchzen klingt, ähnlich wie mans beim Heuet in den Bergen hört, dann ſagt das Volk, es ſei „der wilde Gei߬ ler.“ Mit dem ſoll es folgende Bewandniß haben. Ein großer Geißbube, der vor Uebermuth und Langeweile oft nicht wußte, womit er die Zeit ſich vertreiben ſollte und ſchon tauſend tolle Streiche mit ſeinen Thieren begonnen hatte, gerieth auf den Ein¬ fall, einen großen, ſtarken Bock zu kreuzigen, d. h. ihn an ein aus rohen Baumſtämmen improviſirtes Kreuz mit Schlingpflanzen oder
Berlepſch, die Alpen. 24
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Der Geißbub.
in die er ſich flüchtet. Iſts aber ein kalter, regneriſcher Sommer,
dann hat der arme, barfußlaufende Tropf höchſtens einen alten
Sack über die Schultern zum Schutz gegen die Näſſe. Deſſen un¬
geachtet iſt er fröhlich und ſcheint die Unbilden der Witterung
wenig zu fühlen. Abends dann treibt er heim, hat ſeinen Hut
mit Alpenblumen geſchmückt, und kehrt ſo friſch und kräftig ins
Dorf zurück, als er am Morgen auszog. So gehts vom frühen
Frühjahr bis in den Spätherbſt. Und als baaren Lohn erhält
er fürs Stück jährlich zwei bis drei Batzen. Es gehört eben Gei߬
bubenſtoff zu ſolch einem Menſchen.
Am Südabhange der Alpen giebts große prachtvolle, lang¬
haarige Thiere. Im Herbſt, wenn ſie keine Milch mehr geben,
werden ſie in die Wälder getrieben, ohne Aufſicht und Huth ſich
ſelber überlaſſen, und erſt im Frühjahr, wenn ſie dem Gitzelen nahe
ſind, halb verwildert wieder eingefangen. Nach Belgien, Frank¬
reich und England werden die zarten Ziegenfelle in großen Maſſen
zur Verwendung für Glacé-Handſchuhe ausgeführt. Ob wohl eine
unſerer ſchönen Leſerinnen ſchon je daran gedacht hat, wenn ſie
ihre feinen, weichen, dehnbaren und parfümirten Handſchuhe anzog,
daß der Stoff dazu aus den wildeſten und entlegenſten Gegenden
der Alpen ſtamme, wo die „Gizzi“ und ihr Bub ein armſeliges,
dürftiges, aber freies Leben friſten?
Das Geißhirtenleben hat auch ſeine ſchauerlich-romantiſche
Seite. Wenn Nachts die Eulen in den Wäldern ſchreien, daß es
wie ein hölliſches Jauchzen klingt, ähnlich wie mans beim Heuet
in den Bergen hört, dann ſagt das Volk, es ſei „der wilde Gei߬
ler.“ Mit dem ſoll es folgende Bewandniß haben. Ein großer
Geißbube, der vor Uebermuth und Langeweile oft nicht wußte,
womit er die Zeit ſich vertreiben ſollte und ſchon tauſend tolle
Streiche mit ſeinen Thieren begonnen hatte, gerieth auf den Ein¬
fall, einen großen, ſtarken Bock zu kreuzigen, d. h. ihn an ein aus
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Berlepſch, die Alpen. 24
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/409>, abgerufen am 16.07.2024.
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