Du stehst und lauschest diesem geisterhaften Klangspiel, das zaube¬ risch und unbestimmt daher weht, und Dich gefangen hält, ein neuer, wunderbarer Reiz der Alpenwelt. Es ist der Geißbub, der droben an den Flühen seine genäschige, neckische, kletternde Herde weidet. Er hat uns erblickt und ein freude-schmetterndes "Juhu" sendet er uns als kernigen Alpengruß herüber.
Der Geißbub ist ein Attribut der Gebirgswelt wie der Laui¬ nendonner und das Alpenglühen, wie der Gemsjäger und das flie¬ hende, pfeifende Murmelthier. Er ist ein Schmuck der Berge, ein jovial die hohen Fluhtossen und Felsenwüsten belebendes Element. Wohin kein Senn die schweren Thiere treiben darf, weil Weg und Steg verschwinden und die Kräuterdecke nur wie zerzauste Flocken am verwitternden Gesteine hangt, da klettert der braune, fröhliche Knabe mit der meckernden Ziegenschaar hinauf und träumt sich größer und reicher und seliger als Ordens-Komthure und Kapital- Regenten.
Und doch ists gewöhnlich der ärmste Bube des Dorfes, oft vaterlos oder ganz verwaist, der nicht die Jugendfreude anderer Kinder kennen lernte, nicht am elterlichen Herde Schutz und Nah¬ rung und Frieden fand. Damit er nicht der Gemeinde zur Last falle und früh sein Brod verdienen lerne, wies ihn die Vormund¬ schaft hinaus in die Einöde des Gebirges, wo sonst keines Men¬ schen Fuß weilt. Dort ist sein Aufenthalt vom beginnenden Früh¬ ling bis spät hinaus ins Jahr; dort zieht Mutter Natur an ihrem Busen ihn groß und tränkt ihn mit reinem Aether und macht ihn groß und stark zum gefährlichen Beruf, den er spielend und mit Freude erfüllt. Aber er liebt sie auch, die nährende Mutter, und der wie ein wildes Reis aufgeschossene, halb verwilderte Knabe schwelgt in Genüssen, die wir bedürfnißvollen Thalmenschen kaum zu ahnen vermögen.
Der Bergbauer theilt die große reiche Tafel, welche die Alpen seinem Viehstande darbieten, nach seiner Konvenienz, nach der Mög¬
Der Geißbub.
Du ſtehſt und lauſcheſt dieſem geiſterhaften Klangſpiel, das zaube¬ riſch und unbeſtimmt daher weht, und Dich gefangen hält, ein neuer, wunderbarer Reiz der Alpenwelt. Es iſt der Geißbub, der droben an den Flühen ſeine genäſchige, neckiſche, kletternde Herde weidet. Er hat uns erblickt und ein freude-ſchmetterndes „Juhu“ ſendet er uns als kernigen Alpengruß herüber.
Der Geißbub iſt ein Attribut der Gebirgswelt wie der Laui¬ nendonner und das Alpenglühen, wie der Gemsjäger und das flie¬ hende, pfeifende Murmelthier. Er iſt ein Schmuck der Berge, ein jovial die hohen Fluhtoſſen und Felſenwüſten belebendes Element. Wohin kein Senn die ſchweren Thiere treiben darf, weil Weg und Steg verſchwinden und die Kräuterdecke nur wie zerzauſte Flocken am verwitternden Geſteine hangt, da klettert der braune, fröhliche Knabe mit der meckernden Ziegenſchaar hinauf und träumt ſich größer und reicher und ſeliger als Ordens-Komthure und Kapital- Regenten.
Und doch iſts gewöhnlich der ärmſte Bube des Dorfes, oft vaterlos oder ganz verwaiſt, der nicht die Jugendfreude anderer Kinder kennen lernte, nicht am elterlichen Herde Schutz und Nah¬ rung und Frieden fand. Damit er nicht der Gemeinde zur Laſt falle und früh ſein Brod verdienen lerne, wies ihn die Vormund¬ ſchaft hinaus in die Einöde des Gebirges, wo ſonſt keines Men¬ ſchen Fuß weilt. Dort iſt ſein Aufenthalt vom beginnenden Früh¬ ling bis ſpät hinaus ins Jahr; dort zieht Mutter Natur an ihrem Buſen ihn groß und tränkt ihn mit reinem Aether und macht ihn groß und ſtark zum gefährlichen Beruf, den er ſpielend und mit Freude erfüllt. Aber er liebt ſie auch, die nährende Mutter, und der wie ein wildes Reis aufgeſchoſſene, halb verwilderte Knabe ſchwelgt in Genüſſen, die wir bedürfnißvollen Thalmenſchen kaum zu ahnen vermögen.
Der Bergbauer theilt die große reiche Tafel, welche die Alpen ſeinem Viehſtande darbieten, nach ſeiner Konvenienz, nach der Mög¬
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Der Geißbub.
Du ſtehſt und lauſcheſt dieſem geiſterhaften Klangſpiel, das zaube¬
riſch und unbeſtimmt daher weht, und Dich gefangen hält, ein
neuer, wunderbarer Reiz der Alpenwelt. Es iſt der Geißbub, der
droben an den Flühen ſeine genäſchige, neckiſche, kletternde Herde
weidet. Er hat uns erblickt und ein freude-ſchmetterndes „Juhu“
ſendet er uns als kernigen Alpengruß herüber.
Der Geißbub iſt ein Attribut der Gebirgswelt wie der Laui¬
nendonner und das Alpenglühen, wie der Gemsjäger und das flie¬
hende, pfeifende Murmelthier. Er iſt ein Schmuck der Berge, ein
jovial die hohen Fluhtoſſen und Felſenwüſten belebendes Element.
Wohin kein Senn die ſchweren Thiere treiben darf, weil Weg und
Steg verſchwinden und die Kräuterdecke nur wie zerzauſte Flocken
am verwitternden Geſteine hangt, da klettert der braune, fröhliche
Knabe mit der meckernden Ziegenſchaar hinauf und träumt ſich
größer und reicher und ſeliger als Ordens-Komthure und Kapital-
Regenten.
Und doch iſts gewöhnlich der ärmſte Bube des Dorfes, oft
vaterlos oder ganz verwaiſt, der nicht die Jugendfreude anderer
Kinder kennen lernte, nicht am elterlichen Herde Schutz und Nah¬
rung und Frieden fand. Damit er nicht der Gemeinde zur Laſt
falle und früh ſein Brod verdienen lerne, wies ihn die Vormund¬
ſchaft hinaus in die Einöde des Gebirges, wo ſonſt keines Men¬
ſchen Fuß weilt. Dort iſt ſein Aufenthalt vom beginnenden Früh¬
ling bis ſpät hinaus ins Jahr; dort zieht Mutter Natur an ihrem
Buſen ihn groß und tränkt ihn mit reinem Aether und macht ihn
groß und ſtark zum gefährlichen Beruf, den er ſpielend und mit
Freude erfüllt. Aber er liebt ſie auch, die nährende Mutter, und
der wie ein wildes Reis aufgeſchoſſene, halb verwilderte Knabe
ſchwelgt in Genüſſen, die wir bedürfnißvollen Thalmenſchen kaum
zu ahnen vermögen.
Der Bergbauer theilt die große reiche Tafel, welche die Alpen
ſeinem Viehſtande darbieten, nach ſeiner Konvenienz, nach der Mög¬
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/402>, abgerufen am 22.11.2024.
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