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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Gebirgs-Pässe und Alpen-Straßen.
Cenis (6354 Fuß), Col de Lautaret (6443 Fuß) und Mont
Genevre
(5741 Fuß) in den Grajischen Alpen, zeigt er nichts
sehr Auffallendes. Die Reisenden werden in große, sechssitzige
Postschlitten gepackt, die 10 bis 12 Pferde Vorspann erhalten.
Schimmel sind seit Olimszeiten zu diesem Dienst bestimmt, weil
"Cavallo bianco mai stanco" weiße Pferde nie müde werden.
Statt der Glasfenster müssen hölzerne Klappladen den Dienst ver¬
sehen, durch deren klaffende Fugen und Astlöcher der Sturm
pfeift und den feinen, staubartigen Schnee in den dunkeln Raum
hineinkontrebandirt. Anders ists auf den Walliser und Graubünd¬
ner Paßstraßen, über welche jetzt mit schweizerischem Geschirr der
Postdienst bis Colico piano am Comersee (Splügen-Passage) und
bis Arona am Lago maggiore (über Simplon) besorgt wird. Mit
großen bequemen Wagen fährt man, so weit es "aber", d. h. so
weit die Straße schneefrei ist, am Berg empor. Sporadische
Schneeflecken zu beiden Seiten melden die absolut-winterliche
Region an. Kommt nun endlich der konstante, weiße, glatte
Gleitweg, dann erblickt der Passagier eine Anzahl kleiner, ein- und
zweisitziger Schlitten, die ohne Dach und Fach, ohne Bewachung
sicher und unangetastet hier umgestürzt neben der Straße liegen.

Scenen, die an Nordpol-Expeditionen lebhaft erinnern, ent¬
wickeln sich nun hier. Der Postillon tritt mit beiden Füßen eine
Futter-Krippe in den Schnee, wirft Heu hinein, daß die Pferde
eine Interims-"Collazione" einnehmen und zu neuer Anstrengung
sich restauriren können; der Kondukteur wählt die für seinen jedes¬
maligen Transport geeignetsten Fahrzeuge aus, läßt sie auf die
Kufen stellen, und die Umladung der Güter, Briefsäcke, Koffer,
und Passagiere beginnt. Letztere erhalten jeder einen hieb- und
schußfesten, dicken Büffel-Mantel. Es ist ein rühmenswerther Akt
der Humanität, daß die Eidgenossenschaft solche zweckmäßige Prä¬
servative hier bereit hält. Wenn es ein trockener, kalter Winter¬
tag und heller Himmel ist, dann herrscht in der Regel das hei¬

Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.
Cenis (6354 Fuß), Col de Lautaret (6443 Fuß) und Mont
Genèvre
(5741 Fuß) in den Grajiſchen Alpen, zeigt er nichts
ſehr Auffallendes. Die Reiſenden werden in große, ſechsſitzige
Poſtſchlitten gepackt, die 10 bis 12 Pferde Vorſpann erhalten.
Schimmel ſind ſeit Olimszeiten zu dieſem Dienſt beſtimmt, weil
Cavallo bianco mai stanco“ weiße Pferde nie müde werden.
Statt der Glasfenſter müſſen hölzerne Klappladen den Dienſt ver¬
ſehen, durch deren klaffende Fugen und Aſtlöcher der Sturm
pfeift und den feinen, ſtaubartigen Schnee in den dunkeln Raum
hineinkontrebandirt. Anders iſts auf den Walliſer und Graubünd¬
ner Paßſtraßen, über welche jetzt mit ſchweizeriſchem Geſchirr der
Poſtdienſt bis Colico piano am Comerſee (Splügen-Paſſage) und
bis Arona am Lago maggiore (über Simplon) beſorgt wird. Mit
großen bequemen Wagen fährt man, ſo weit es „aber“, d. h. ſo
weit die Straße ſchneefrei iſt, am Berg empor. Sporadiſche
Schneeflecken zu beiden Seiten melden die abſolut-winterliche
Region an. Kommt nun endlich der konſtante, weiße, glatte
Gleitweg, dann erblickt der Paſſagier eine Anzahl kleiner, ein- und
zweiſitziger Schlitten, die ohne Dach und Fach, ohne Bewachung
ſicher und unangetaſtet hier umgeſtürzt neben der Straße liegen.

Scenen, die an Nordpol-Expeditionen lebhaft erinnern, ent¬
wickeln ſich nun hier. Der Poſtillon tritt mit beiden Füßen eine
Futter-Krippe in den Schnee, wirft Heu hinein, daß die Pferde
eine Interims-„Collazione“ einnehmen und zu neuer Anſtrengung
ſich reſtauriren können; der Kondukteur wählt die für ſeinen jedes¬
maligen Transport geeignetſten Fahrzeuge aus, läßt ſie auf die
Kufen ſtellen, und die Umladung der Güter, Briefſäcke, Koffer,
und Paſſagiere beginnt. Letztere erhalten jeder einen hieb- und
ſchußfeſten, dicken Büffel-Mantel. Es iſt ein rühmenswerther Akt
der Humanität, daß die Eidgenoſſenſchaft ſolche zweckmäßige Prä¬
ſervative hier bereit hält. Wenn es ein trockener, kalter Winter¬
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[298/0334] Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Cenis (6354 Fuß), Col de Lautaret (6443 Fuß) und Mont Genèvre (5741 Fuß) in den Grajiſchen Alpen, zeigt er nichts ſehr Auffallendes. Die Reiſenden werden in große, ſechsſitzige Poſtſchlitten gepackt, die 10 bis 12 Pferde Vorſpann erhalten. Schimmel ſind ſeit Olimszeiten zu dieſem Dienſt beſtimmt, weil „Cavallo bianco mai stanco“ weiße Pferde nie müde werden. Statt der Glasfenſter müſſen hölzerne Klappladen den Dienſt ver¬ ſehen, durch deren klaffende Fugen und Aſtlöcher der Sturm pfeift und den feinen, ſtaubartigen Schnee in den dunkeln Raum hineinkontrebandirt. Anders iſts auf den Walliſer und Graubünd¬ ner Paßſtraßen, über welche jetzt mit ſchweizeriſchem Geſchirr der Poſtdienſt bis Colico piano am Comerſee (Splügen-Paſſage) und bis Arona am Lago maggiore (über Simplon) beſorgt wird. Mit großen bequemen Wagen fährt man, ſo weit es „aber“, d. h. ſo weit die Straße ſchneefrei iſt, am Berg empor. Sporadiſche Schneeflecken zu beiden Seiten melden die abſolut-winterliche Region an. Kommt nun endlich der konſtante, weiße, glatte Gleitweg, dann erblickt der Paſſagier eine Anzahl kleiner, ein- und zweiſitziger Schlitten, die ohne Dach und Fach, ohne Bewachung ſicher und unangetaſtet hier umgeſtürzt neben der Straße liegen. Scenen, die an Nordpol-Expeditionen lebhaft erinnern, ent¬ wickeln ſich nun hier. Der Poſtillon tritt mit beiden Füßen eine Futter-Krippe in den Schnee, wirft Heu hinein, daß die Pferde eine Interims-„Collazione“ einnehmen und zu neuer Anſtrengung ſich reſtauriren können; der Kondukteur wählt die für ſeinen jedes¬ maligen Transport geeignetſten Fahrzeuge aus, läßt ſie auf die Kufen ſtellen, und die Umladung der Güter, Briefſäcke, Koffer, und Paſſagiere beginnt. Letztere erhalten jeder einen hieb- und ſchußfeſten, dicken Büffel-Mantel. Es iſt ein rühmenswerther Akt der Humanität, daß die Eidgenoſſenſchaft ſolche zweckmäßige Prä¬ ſervative hier bereit hält. Wenn es ein trockener, kalter Winter¬ tag und heller Himmel iſt, dann herrſcht in der Regel das hei¬

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/334>, abgerufen am 28.11.2024.