Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Alpenspitzen.
+ 8°,5 R. (ob Sonne oder Schatten, ist unbekannt) und Weilen¬
mann auf dem Piz Linard (bei 10516 Fuß) Anfang Juli, Mittags
11 Uhr, sogar + 17° R. an der Südseite in der Sonne. In¬
dessen beeinträchtigt der geringe Wärme-Gehalt der Luft die
Gipfel-Erklimmer in den meisten Fällen wenig; die Begleiter Agas¬
siz's tanzten bei ihrem Strahlegg-Uebergange (10380 Fuß ü. d. M.)
und wälzten sich, den Buben gleich, im Schnee, die Führer ver¬
suchten einen Hosenlupf (Schwingen oder Ringen) und der alte
sechzigjährige Bernhard Voegeli streckte sich nach errungener Tödi-
Ersteigung gemächlich auf den Schnee und schnarchte bald ganz
behaglich. Allgemein rühmen die "Birgmannen" eine eigene Elasti¬
cität der Luft, die bei aller Frische dennoch die größte Müdigkeit
paralysirt; aber ebenso einmüthig klagen sie andererseits über die
große Trockenheit der Atmosphäre, welche ein eigenthümliches Spröde¬
werden der Haut und anderer Gegenstände veranlaßt, so daß letz¬
tere ungemein leicht der Hand entgleiten.

Ein zweiter, den Genuß oft wesentlich beeinträchtigender Fak¬
tor ist die meist sehr geringe Durchsichtigkeit der Luft nach der
Tiefe zu. Während dieselbe nach oben so außerordentlich transpa¬
rent ist, daß der leere Himmelsraum im Zenith fast schwarz¬
blau oder wie dunkel angelaufener Stahl aussieht, erscheinen die
fernen Berge, vom Montblanc oder Monte Rosa aus gesehen, in
beinahe dunkelgelber Färbung, und selbst die Firnfelder nehmen
einen gelben Schein an. Dagegen verschwimmen die Thaltiefen,
von Höhepunkten, wie die eben genannten, durch die über den
Tiefen lagernden Dünste ins beinahe Unerkennbare; nur bei ganz
hellem Himmel kann man vom Montblanc, dessen Aussichtskreis im
Halbmesser auf 70 Stunden geschätzt wird, die zunächst gelegenen
Alpenketten scharf und deutlich erkennen, -- weiterhin verschleiert
sich Alles immer mehr und mehr, bis es ins absolut Unbestimmte
übergeht. Indessen variiren, je nach örtlicher Lage und nächster
Umgebung der Gipfel, auch hier die Niederblicke und Aussichten

Alpenſpitzen.
+ 8°,₅ R. (ob Sonne oder Schatten, iſt unbekannt) und Weilen¬
mann auf dem Piz Linard (bei 10516 Fuß) Anfang Juli, Mittags
11 Uhr, ſogar + 17° R. an der Südſeite in der Sonne. In¬
deſſen beeinträchtigt der geringe Wärme-Gehalt der Luft die
Gipfel-Erklimmer in den meiſten Fällen wenig; die Begleiter Agaſ¬
ſiz's tanzten bei ihrem Strahlegg-Uebergange (10380 Fuß ü. d. M.)
und wälzten ſich, den Buben gleich, im Schnee, die Führer ver¬
ſuchten einen Hoſenlupf (Schwingen oder Ringen) und der alte
ſechzigjährige Bernhard Voegeli ſtreckte ſich nach errungener Tödi-
Erſteigung gemächlich auf den Schnee und ſchnarchte bald ganz
behaglich. Allgemein rühmen die „Birgmannen“ eine eigene Elaſti¬
cität der Luft, die bei aller Friſche dennoch die größte Müdigkeit
paralyſirt; aber ebenſo einmüthig klagen ſie andererſeits über die
große Trockenheit der Atmoſphäre, welche ein eigenthümliches Spröde¬
werden der Haut und anderer Gegenſtände veranlaßt, ſo daß letz¬
tere ungemein leicht der Hand entgleiten.

Ein zweiter, den Genuß oft weſentlich beeinträchtigender Fak¬
tor iſt die meiſt ſehr geringe Durchſichtigkeit der Luft nach der
Tiefe zu. Während dieſelbe nach oben ſo außerordentlich tranſpa¬
rent iſt, daß der leere Himmelsraum im Zenith faſt ſchwarz¬
blau oder wie dunkel angelaufener Stahl ausſieht, erſcheinen die
fernen Berge, vom Montblanc oder Monte Roſa aus geſehen, in
beinahe dunkelgelber Färbung, und ſelbſt die Firnfelder nehmen
einen gelben Schein an. Dagegen verſchwimmen die Thaltiefen,
von Höhepunkten, wie die eben genannten, durch die über den
Tiefen lagernden Dünſte ins beinahe Unerkennbare; nur bei ganz
hellem Himmel kann man vom Montblanc, deſſen Ausſichtskreis im
Halbmeſſer auf 70 Stunden geſchätzt wird, die zunächſt gelegenen
Alpenketten ſcharf und deutlich erkennen, — weiterhin verſchleiert
ſich Alles immer mehr und mehr, bis es ins abſolut Unbeſtimmte
übergeht. Indeſſen variiren, je nach örtlicher Lage und nächſter
Umgebung der Gipfel, auch hier die Niederblicke und Ausſichten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0311" n="277"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Alpen&#x017F;pitzen</hi>.<lb/></fw> + 8°,&#x2085; <hi rendition="#aq">R</hi>. (ob Sonne oder Schatten, i&#x017F;t unbekannt) und Weilen¬<lb/>
mann auf dem Piz Linard (bei 10516 Fuß) Anfang Juli, Mittags<lb/>
11 Uhr, &#x017F;ogar + 17° <hi rendition="#aq">R</hi>. an der Süd&#x017F;eite in der Sonne. In¬<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en beeinträchtigt der geringe Wärme-Gehalt der Luft die<lb/>
Gipfel-Erklimmer in den mei&#x017F;ten Fällen wenig; die Begleiter Aga&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;iz's tanzten bei ihrem Strahlegg-Uebergange (10380 Fuß ü. d. M.)<lb/>
und wälzten &#x017F;ich, den Buben gleich, im Schnee, die Führer ver¬<lb/>
&#x017F;uchten einen Ho&#x017F;enlupf (Schwingen oder Ringen) und der alte<lb/>
&#x017F;echzigjährige Bernhard Voegeli &#x017F;treckte &#x017F;ich nach errungener Tödi-<lb/>
Er&#x017F;teigung gemächlich auf den Schnee und &#x017F;chnarchte bald ganz<lb/>
behaglich. Allgemein rühmen die &#x201E;Birgmannen&#x201C; eine eigene Ela&#x017F;ti¬<lb/>
cität der Luft, die bei aller Fri&#x017F;che dennoch die größte Müdigkeit<lb/>
paraly&#x017F;irt; aber eben&#x017F;o einmüthig klagen &#x017F;ie anderer&#x017F;eits über die<lb/>
große Trockenheit der Atmo&#x017F;phäre, welche ein eigenthümliches Spröde¬<lb/>
werden der Haut und anderer Gegen&#x017F;tände veranlaßt, &#x017F;o daß letz¬<lb/>
tere ungemein leicht der Hand entgleiten.</p><lb/>
        <p>Ein zweiter, den Genuß oft we&#x017F;entlich beeinträchtigender Fak¬<lb/>
tor i&#x017F;t die mei&#x017F;t &#x017F;ehr geringe Durch&#x017F;ichtigkeit der Luft nach der<lb/>
Tiefe zu. Während die&#x017F;elbe nach oben &#x017F;o außerordentlich tran&#x017F;pa¬<lb/>
rent i&#x017F;t, daß der leere Himmelsraum im Zenith fa&#x017F;t &#x017F;chwarz¬<lb/>
blau oder wie dunkel angelaufener Stahl aus&#x017F;ieht, er&#x017F;cheinen die<lb/>
fernen Berge, vom Montblanc oder Monte Ro&#x017F;a aus ge&#x017F;ehen, in<lb/>
beinahe dunkelgelber Färbung, und &#x017F;elb&#x017F;t die Firnfelder nehmen<lb/>
einen gelben Schein an. Dagegen ver&#x017F;chwimmen die Thaltiefen,<lb/>
von Höhepunkten, wie die eben genannten, durch die über den<lb/>
Tiefen lagernden Dün&#x017F;te ins beinahe Unerkennbare; nur bei ganz<lb/>
hellem Himmel kann man vom Montblanc, de&#x017F;&#x017F;en Aus&#x017F;ichtskreis im<lb/>
Halbme&#x017F;&#x017F;er auf 70 Stunden ge&#x017F;chätzt wird, die zunäch&#x017F;t gelegenen<lb/>
Alpenketten &#x017F;charf und deutlich erkennen, &#x2014; weiterhin ver&#x017F;chleiert<lb/>
&#x017F;ich Alles immer mehr und mehr, bis es ins ab&#x017F;olut Unbe&#x017F;timmte<lb/>
übergeht. Inde&#x017F;&#x017F;en variiren, je nach örtlicher Lage und näch&#x017F;ter<lb/>
Umgebung der Gipfel, auch hier die Niederblicke und Aus&#x017F;ichten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[277/0311] Alpenſpitzen. + 8°,₅ R. (ob Sonne oder Schatten, iſt unbekannt) und Weilen¬ mann auf dem Piz Linard (bei 10516 Fuß) Anfang Juli, Mittags 11 Uhr, ſogar + 17° R. an der Südſeite in der Sonne. In¬ deſſen beeinträchtigt der geringe Wärme-Gehalt der Luft die Gipfel-Erklimmer in den meiſten Fällen wenig; die Begleiter Agaſ¬ ſiz's tanzten bei ihrem Strahlegg-Uebergange (10380 Fuß ü. d. M.) und wälzten ſich, den Buben gleich, im Schnee, die Führer ver¬ ſuchten einen Hoſenlupf (Schwingen oder Ringen) und der alte ſechzigjährige Bernhard Voegeli ſtreckte ſich nach errungener Tödi- Erſteigung gemächlich auf den Schnee und ſchnarchte bald ganz behaglich. Allgemein rühmen die „Birgmannen“ eine eigene Elaſti¬ cität der Luft, die bei aller Friſche dennoch die größte Müdigkeit paralyſirt; aber ebenſo einmüthig klagen ſie andererſeits über die große Trockenheit der Atmoſphäre, welche ein eigenthümliches Spröde¬ werden der Haut und anderer Gegenſtände veranlaßt, ſo daß letz¬ tere ungemein leicht der Hand entgleiten. Ein zweiter, den Genuß oft weſentlich beeinträchtigender Fak¬ tor iſt die meiſt ſehr geringe Durchſichtigkeit der Luft nach der Tiefe zu. Während dieſelbe nach oben ſo außerordentlich tranſpa¬ rent iſt, daß der leere Himmelsraum im Zenith faſt ſchwarz¬ blau oder wie dunkel angelaufener Stahl ausſieht, erſcheinen die fernen Berge, vom Montblanc oder Monte Roſa aus geſehen, in beinahe dunkelgelber Färbung, und ſelbſt die Firnfelder nehmen einen gelben Schein an. Dagegen verſchwimmen die Thaltiefen, von Höhepunkten, wie die eben genannten, durch die über den Tiefen lagernden Dünſte ins beinahe Unerkennbare; nur bei ganz hellem Himmel kann man vom Montblanc, deſſen Ausſichtskreis im Halbmeſſer auf 70 Stunden geſchätzt wird, die zunächſt gelegenen Alpenketten ſcharf und deutlich erkennen, — weiterhin verſchleiert ſich Alles immer mehr und mehr, bis es ins abſolut Unbeſtimmte übergeht. Indeſſen variiren, je nach örtlicher Lage und nächſter Umgebung der Gipfel, auch hier die Niederblicke und Ausſichten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/311
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/311>, abgerufen am 24.11.2024.