Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Alpenspitzen. die grauen verhüllenden Schleier reißen, in freudigem Schreckenerkennen, daß rundum alle Gipfel tiefer liegen als der, auf wel¬ chem sie stehen, und unbewußt der langersehnte Zielpunkt erreicht ist. So ergings den stählernen, mit eiserner Konsequenz vordringen¬ den Gebirgsmännern: Bernhard Voegeli, einem 60jährigen verwegenen Gemsjäger und Wildheuer in Begleitung seines Sohnes Gabriel und des kühnen Thomas Thut, alle Drei in den Obbordbergen hin¬ ter dem Dorfe Linththal (Kanton Glarus) daheim. Alle bis dahin mit dem größten Aufwande veranstalteten Expeditionen waren sämmtlich nicht ans Ziel gelangt, und im ganzen Glarner Gro߬ thale galt es für unbestreitbare Thatsache, daß der Tödi unersteigbar sei, wie heute noch das Matterhorn, die Dente blanche, das Wei߬ horn und Mont Cervin der Walliser Alpen für unerklimmbar gelten. Mit der Ersteigung eines solchen äußersten Höhepunktes ist Alpenſpitzen. die grauen verhüllenden Schleier reißen, in freudigem Schreckenerkennen, daß rundum alle Gipfel tiefer liegen als der, auf wel¬ chem ſie ſtehen, und unbewußt der langerſehnte Zielpunkt erreicht iſt. So ergings den ſtählernen, mit eiſerner Konſequenz vordringen¬ den Gebirgsmännern: Bernhard Voegeli, einem 60jährigen verwegenen Gemsjäger und Wildheuer in Begleitung ſeines Sohnes Gabriel und des kühnen Thomas Thut, alle Drei in den Obbordbergen hin¬ ter dem Dorfe Linththal (Kanton Glarus) daheim. Alle bis dahin mit dem größten Aufwande veranſtalteten Expeditionen waren ſämmtlich nicht ans Ziel gelangt, und im ganzen Glarner Gro߬ thale galt es für unbeſtreitbare Thatſache, daß der Tödi unerſteigbar ſei, wie heute noch das Matterhorn, die Dente blanche, das Wei߬ horn und Mont Cervin der Walliſer Alpen für unerklimmbar gelten. Mit der Erſteigung eines ſolchen äußerſten Höhepunktes iſt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0310" n="276"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Alpenſpitzen</hi>.<lb/></fw> die grauen verhüllenden Schleier reißen, in freudigem Schrecken<lb/> erkennen, daß rundum alle Gipfel tiefer liegen als der, auf wel¬<lb/> chem ſie ſtehen, und unbewußt der langerſehnte Zielpunkt erreicht<lb/> iſt. So ergings den ſtählernen, mit eiſerner Konſequenz vordringen¬<lb/> den Gebirgsmännern: Bernhard Voegeli, einem 60jährigen verwegenen<lb/> Gemsjäger und Wildheuer in Begleitung ſeines Sohnes Gabriel<lb/> und des kühnen Thomas Thut, alle Drei in den Obbordbergen hin¬<lb/> ter dem Dorfe Linththal (Kanton Glarus) daheim. Alle bis dahin<lb/> mit dem größten Aufwande veranſtalteten Expeditionen waren<lb/> ſämmtlich nicht ans Ziel gelangt, und im ganzen Glarner Gro߬<lb/> thale galt es für unbeſtreitbare Thatſache, daß der Tödi <hi rendition="#g">unerſteigbar</hi><lb/> ſei, wie heute noch das Matterhorn, die <hi rendition="#aq">Dente blanche,</hi> das Wei߬<lb/> horn und <hi rendition="#aq">Mont Cervin</hi> der Walliſer Alpen für unerklimmbar gelten.</p><lb/> <p>Mit der Erſteigung eines ſolchen äußerſten Höhepunktes iſt<lb/> indeſſen, nach Ueberwindung aller aufgezählten Hinderniſſe und<lb/> Fährlichkeiten, oft noch wenig erreicht, wenn nicht auch der Himmel<lb/> dem Unternehmen ganz außerordentlich günſtig und die Atmoſphäre<lb/> ſehr rein iſt. Jene Tage ſind ſelten, an denen auf Höhen von<lb/> mehr als eilftauſend Fuß die Temperatur einigermaßen mild, der<lb/> Aufenthalt behaglich oder auch nur erträglich iſt; gewöhnlich variirt<lb/> die Wärme in den Regionen über 12000 Fuß an ganz ſonnenkla¬<lb/> ren Sommertagen Mittags im Schatten nur um wenig Grad über<lb/> oder unter dem Gefrierpunkte. De Sauſſure fand auf dem Mont¬<lb/> blanc im Schatten — 2°,₃ und in der Sonne — 1°,₃; Hugi am<lb/> Finſteraarhorn im Auguſt 1 Uhr Mittags im Schatten — 2°,₄ <hi rendition="#aq">R</hi>.,<lb/> in der Sonne 0,₀; Agaſſiz auf der Jungfrau Ende Auguſt 3 Uhr<lb/> Nachmittags im Schatten — 3°; Coaz auf dem Piz Bernina<lb/> 13. Septbr. Abends 6 Uhr in der Sonne + 3° <hi rendition="#aq">R</hi>. Freilich ſind<lb/> auch einzelne Fälle von außerordentlicher Temperatur-Höhe bekannt;<lb/> ſo z. B. fand Herr v. Dürler auf dem Tödi Mitte Auguſt 1 Uhr Nach¬<lb/> mittags im Schatten + 7°,₇ <hi rendition="#aq">C</hi>. und in der Sonne + 9°,₃ <hi rendition="#aq">C</hi>.; Zum¬<lb/> ſtein bei ſeinem Monte Roſa-Erſteigungs-Verſuch in 13920 Fuß Höhe<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [276/0310]
Alpenſpitzen.
die grauen verhüllenden Schleier reißen, in freudigem Schrecken
erkennen, daß rundum alle Gipfel tiefer liegen als der, auf wel¬
chem ſie ſtehen, und unbewußt der langerſehnte Zielpunkt erreicht
iſt. So ergings den ſtählernen, mit eiſerner Konſequenz vordringen¬
den Gebirgsmännern: Bernhard Voegeli, einem 60jährigen verwegenen
Gemsjäger und Wildheuer in Begleitung ſeines Sohnes Gabriel
und des kühnen Thomas Thut, alle Drei in den Obbordbergen hin¬
ter dem Dorfe Linththal (Kanton Glarus) daheim. Alle bis dahin
mit dem größten Aufwande veranſtalteten Expeditionen waren
ſämmtlich nicht ans Ziel gelangt, und im ganzen Glarner Gro߬
thale galt es für unbeſtreitbare Thatſache, daß der Tödi unerſteigbar
ſei, wie heute noch das Matterhorn, die Dente blanche, das Wei߬
horn und Mont Cervin der Walliſer Alpen für unerklimmbar gelten.
Mit der Erſteigung eines ſolchen äußerſten Höhepunktes iſt
indeſſen, nach Ueberwindung aller aufgezählten Hinderniſſe und
Fährlichkeiten, oft noch wenig erreicht, wenn nicht auch der Himmel
dem Unternehmen ganz außerordentlich günſtig und die Atmoſphäre
ſehr rein iſt. Jene Tage ſind ſelten, an denen auf Höhen von
mehr als eilftauſend Fuß die Temperatur einigermaßen mild, der
Aufenthalt behaglich oder auch nur erträglich iſt; gewöhnlich variirt
die Wärme in den Regionen über 12000 Fuß an ganz ſonnenkla¬
ren Sommertagen Mittags im Schatten nur um wenig Grad über
oder unter dem Gefrierpunkte. De Sauſſure fand auf dem Mont¬
blanc im Schatten — 2°,₃ und in der Sonne — 1°,₃; Hugi am
Finſteraarhorn im Auguſt 1 Uhr Mittags im Schatten — 2°,₄ R.,
in der Sonne 0,₀; Agaſſiz auf der Jungfrau Ende Auguſt 3 Uhr
Nachmittags im Schatten — 3°; Coaz auf dem Piz Bernina
13. Septbr. Abends 6 Uhr in der Sonne + 3° R. Freilich ſind
auch einzelne Fälle von außerordentlicher Temperatur-Höhe bekannt;
ſo z. B. fand Herr v. Dürler auf dem Tödi Mitte Auguſt 1 Uhr Nach¬
mittags im Schatten + 7°,₇ C. und in der Sonne + 9°,₃ C.; Zum¬
ſtein bei ſeinem Monte Roſa-Erſteigungs-Verſuch in 13920 Fuß Höhe
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