Hat der Bergsteiger nun den Gletscher seiner Länge oder Breite nach überschritten, so ists nicht selten der Fall, daß ihm der Uebergang auf das wieder zu betretende, feste Gestein noch uner¬ wartete Schwierigkeiten bereitet. Der Felsen schmilzt in Folge seiner größeren Wärme-Kapazität die zunächst auf ihm lagernden Gletscher-Ränder derart ab, daß diese in einer Höhe von 4, 6, 10, ja bis 20 Fuß von ihm abstehen. Läßt sich nun kein Punkt fin¬ den, an welchem der Wanderer den vom Schmelzwasser schlüpfrigen Boden durch einen voraussichtlich gelingenden Sprung erreichen kann, so bleibt ihm nichts als das Herabturnen am Seile übrig.
In sehr vielen Fällen ists jedoch gar nicht nöthig oder auch nicht möglich, das feste Gestein zu betreten, sondern man geht direkt allmählig vom Gletscher auf den Firn über. Dieser ist wegen sei¬ ner körnigen, minder zusammenhängenden Struktur und wegen der größeren Bewegungs- und Anschmiegungs-Fähigkeit gewöhnlich auch weniger zerrissen. Es giebt Firnfelder, über die man stundenweit, ohne auf das mindeste Hinderniß zu stoßen, gehen und steigen kann, -- die also das rasche Fortkommen außerordentlich begünsti¬ gen. Aber es giebt auch solche, die in Folge des ungleichen, zer¬ spaltenen Felsenbettes, auf dem sie ruhen, von Rissen und Zerklüf¬ tungen durchkreuzt werden, die unter dem Namen der "Firn¬ schründe" (Rimayes) bekannt sind. Schauerlich-schöne Ein¬ blicke eröffnen sich in solche große Firnhöhlen. Oft sind sie von unschätzbarer Tiefe, im Innern durchsichtig-azurblau beleuchtet, so magisch und sanft, daß man an Kühleborns Zauberpalast in de la Motte-Fouque's Undine erinnert wird. Die von den Gesimsen und Plafonds herabhangenden granulirten Eiszapfen, ähnlich den Stalaktiten-Gebilden in den Kalksinter- und Tropfstein-Grotten, er¬ höhen das Mährchenhafte, und erreichen diese gar wieder den Bo¬ den der schräg-absinkenden Schneehöhlen, so erscheinen sie dann wie die Tragpfeiler hochgewölbter Dome und sind wohlgeeignet, der Phantasie zu allerlei fabelhaften Arabesken Anhaltepunkte zu geben.
Alpenſpitzen.
Hat der Bergſteiger nun den Gletſcher ſeiner Länge oder Breite nach überſchritten, ſo iſts nicht ſelten der Fall, daß ihm der Uebergang auf das wieder zu betretende, feſte Geſtein noch uner¬ wartete Schwierigkeiten bereitet. Der Felſen ſchmilzt in Folge ſeiner größeren Wärme-Kapazität die zunächſt auf ihm lagernden Gletſcher-Ränder derart ab, daß dieſe in einer Höhe von 4, 6, 10, ja bis 20 Fuß von ihm abſtehen. Läßt ſich nun kein Punkt fin¬ den, an welchem der Wanderer den vom Schmelzwaſſer ſchlüpfrigen Boden durch einen vorausſichtlich gelingenden Sprung erreichen kann, ſo bleibt ihm nichts als das Herabturnen am Seile übrig.
In ſehr vielen Fällen iſts jedoch gar nicht nöthig oder auch nicht möglich, das feſte Geſtein zu betreten, ſondern man geht direkt allmählig vom Gletſcher auf den Firn über. Dieſer iſt wegen ſei¬ ner körnigen, minder zuſammenhängenden Struktur und wegen der größeren Bewegungs- und Anſchmiegungs-Fähigkeit gewöhnlich auch weniger zerriſſen. Es giebt Firnfelder, über die man ſtundenweit, ohne auf das mindeſte Hinderniß zu ſtoßen, gehen und ſteigen kann, — die alſo das raſche Fortkommen außerordentlich begünſti¬ gen. Aber es giebt auch ſolche, die in Folge des ungleichen, zer¬ ſpaltenen Felſenbettes, auf dem ſie ruhen, von Riſſen und Zerklüf¬ tungen durchkreuzt werden, die unter dem Namen der „Firn¬ ſchründe“ (Rimayes) bekannt ſind. Schauerlich-ſchöne Ein¬ blicke eröffnen ſich in ſolche große Firnhöhlen. Oft ſind ſie von unſchätzbarer Tiefe, im Innern durchſichtig-azurblau beleuchtet, ſo magiſch und ſanft, daß man an Kühleborns Zauberpalaſt in de la Motte-Fouqué's Undine erinnert wird. Die von den Geſimſen und Plafonds herabhangenden granulirten Eiszapfen, ähnlich den Stalaktiten-Gebilden in den Kalkſinter- und Tropfſtein-Grotten, er¬ höhen das Mährchenhafte, und erreichen dieſe gar wieder den Bo¬ den der ſchräg-abſinkenden Schneehöhlen, ſo erſcheinen ſie dann wie die Tragpfeiler hochgewölbter Dome und ſind wohlgeeignet, der Phantaſie zu allerlei fabelhaften Arabesken Anhaltepunkte zu geben.
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Alpenſpitzen.
Hat der Bergſteiger nun den Gletſcher ſeiner Länge oder Breite
nach überſchritten, ſo iſts nicht ſelten der Fall, daß ihm der
Uebergang auf das wieder zu betretende, feſte Geſtein noch uner¬
wartete Schwierigkeiten bereitet. Der Felſen ſchmilzt in Folge
ſeiner größeren Wärme-Kapazität die zunächſt auf ihm lagernden
Gletſcher-Ränder derart ab, daß dieſe in einer Höhe von 4, 6, 10,
ja bis 20 Fuß von ihm abſtehen. Läßt ſich nun kein Punkt fin¬
den, an welchem der Wanderer den vom Schmelzwaſſer ſchlüpfrigen
Boden durch einen vorausſichtlich gelingenden Sprung erreichen kann,
ſo bleibt ihm nichts als das Herabturnen am Seile übrig.
In ſehr vielen Fällen iſts jedoch gar nicht nöthig oder auch
nicht möglich, das feſte Geſtein zu betreten, ſondern man geht direkt
allmählig vom Gletſcher auf den Firn über. Dieſer iſt wegen ſei¬
ner körnigen, minder zuſammenhängenden Struktur und wegen der
größeren Bewegungs- und Anſchmiegungs-Fähigkeit gewöhnlich auch
weniger zerriſſen. Es giebt Firnfelder, über die man ſtundenweit,
ohne auf das mindeſte Hinderniß zu ſtoßen, gehen und ſteigen
kann, — die alſo das raſche Fortkommen außerordentlich begünſti¬
gen. Aber es giebt auch ſolche, die in Folge des ungleichen, zer¬
ſpaltenen Felſenbettes, auf dem ſie ruhen, von Riſſen und Zerklüf¬
tungen durchkreuzt werden, die unter dem Namen der „Firn¬
ſchründe“ (Rimayes) bekannt ſind. Schauerlich-ſchöne Ein¬
blicke eröffnen ſich in ſolche große Firnhöhlen. Oft ſind ſie von
unſchätzbarer Tiefe, im Innern durchſichtig-azurblau beleuchtet, ſo
magiſch und ſanft, daß man an Kühleborns Zauberpalaſt in de
la Motte-Fouqué's Undine erinnert wird. Die von den Geſimſen
und Plafonds herabhangenden granulirten Eiszapfen, ähnlich den
Stalaktiten-Gebilden in den Kalkſinter- und Tropfſtein-Grotten, er¬
höhen das Mährchenhafte, und erreichen dieſe gar wieder den Bo¬
den der ſchräg-abſinkenden Schneehöhlen, ſo erſcheinen ſie dann wie
die Tragpfeiler hochgewölbter Dome und ſind wohlgeeignet, der
Phantaſie zu allerlei fabelhaften Arabesken Anhaltepunkte zu geben.
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/294>, abgerufen am 24.11.2024.
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