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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Alpenspitzen.
tinuität in den zu überwindenden Parthieen herrschte, d. h. wenn
die Gletscher und ihre Spalten, der Firn und seine Schründe, der
Hochschnee in seiner Mächtigkeit und Konsistenz jahrein, jahraus
sich gleich blieben und tüchtige, lokalkundige Führer daher mit Zu¬
versicht voraus wüßten, welche Hilfs- und Transport-Mittel man
gebrauche, welcher Weg der beste, wann die größte Kraftanstren¬
gung von Nöthen und wo die drohendste Gefahr zu bestehen sei.
Aber erfahrungsgemäß ist die Metamorphose des Terrains nirgends
einer so ewigen Wandelung und Transfiguration unterworfen als
in den hohen und höchsten Alpenregionen. Wo heuer Mulden und
tiefe Schneebecken sich zeigen, thürmen vielleicht im nächsten Jahre
Schnee-Hügel und Weheten sich auf; wo in diesem Sommer Wege
über Firnhalden gemächlich und leicht zu überwinden stetig ansteigen,
ragen im kommenden, wenn er schneearm und andauernd heiß ist,
Felsenriffe und Gesteins-Grathe hervor, die geeignet sind, den tüch¬
tigsten Führer völlig zu desorientiren. Solcher Ungewißheiten hal¬
ber, muß eine Expedition (abgesehen von den Eventualitäten plötz¬
lich umschlagender Witterung) immer auf das Schlimmste gefaßt
und vorbereitet sein.

Umsichtige Berggänger haben den Fundamental-Grundsatz: so
lange als irgend möglich auf dem "Aberen", d. h. auf dem von
Schnee und Eis befreiten Rasen oder Felsen zu bleiben, weil hier
in der Regel der Tritt sicherer, das Klettern minder mühsam, über¬
haupt das Fortkommen rascher möglich, ausgiebiger ist als auf dem
trügerischen, dem Menschen fremden und feindlichen Element des
Firnes und Gletschers. Es ist ungefähr der gleiche Gegensatz wie
zwischen der Fahrt auf festem Lande und jener auf dem Wasser.
Einzig, bei faulem, bröckelichem Gestein und jähen Schutthalden
und beim Hinabsteigen, wo man gewöhnlich die direktesten Linien
wählt, zieht man den Marsch auf dem Schnee vor.

Die ersten bedeutenden Hindernisse im raschen und direkten
Aufsteigen veranlassen gewöhnlich die Gletscherspalten. Es

Alpenſpitzen.
tinuität in den zu überwindenden Parthieen herrſchte, d. h. wenn
die Gletſcher und ihre Spalten, der Firn und ſeine Schründe, der
Hochſchnee in ſeiner Mächtigkeit und Konſiſtenz jahrein, jahraus
ſich gleich blieben und tüchtige, lokalkundige Führer daher mit Zu¬
verſicht voraus wüßten, welche Hilfs- und Transport-Mittel man
gebrauche, welcher Weg der beſte, wann die größte Kraftanſtren¬
gung von Nöthen und wo die drohendſte Gefahr zu beſtehen ſei.
Aber erfahrungsgemäß iſt die Metamorphoſe des Terrains nirgends
einer ſo ewigen Wandelung und Transfiguration unterworfen als
in den hohen und höchſten Alpenregionen. Wo heuer Mulden und
tiefe Schneebecken ſich zeigen, thürmen vielleicht im nächſten Jahre
Schnee-Hügel und Weheten ſich auf; wo in dieſem Sommer Wege
über Firnhalden gemächlich und leicht zu überwinden ſtetig anſteigen,
ragen im kommenden, wenn er ſchneearm und andauernd heiß iſt,
Felſenriffe und Geſteins-Grathe hervor, die geeignet ſind, den tüch¬
tigſten Führer völlig zu desorientiren. Solcher Ungewißheiten hal¬
ber, muß eine Expedition (abgeſehen von den Eventualitäten plötz¬
lich umſchlagender Witterung) immer auf das Schlimmſte gefaßt
und vorbereitet ſein.

Umſichtige Berggänger haben den Fundamental-Grundſatz: ſo
lange als irgend möglich auf dem „Aberen“, d. h. auf dem von
Schnee und Eis befreiten Raſen oder Felſen zu bleiben, weil hier
in der Regel der Tritt ſicherer, das Klettern minder mühſam, über¬
haupt das Fortkommen raſcher möglich, ausgiebiger iſt als auf dem
trügeriſchen, dem Menſchen fremden und feindlichen Element des
Firnes und Gletſchers. Es iſt ungefähr der gleiche Gegenſatz wie
zwiſchen der Fahrt auf feſtem Lande und jener auf dem Waſſer.
Einzig, bei faulem, bröckelichem Geſtein und jähen Schutthalden
und beim Hinabſteigen, wo man gewöhnlich die direkteſten Linien
wählt, zieht man den Marſch auf dem Schnee vor.

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Aufſteigen veranlaſſen gewöhnlich die Gletſcherſpalten. Es

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[255/0289] Alpenſpitzen. tinuität in den zu überwindenden Parthieen herrſchte, d. h. wenn die Gletſcher und ihre Spalten, der Firn und ſeine Schründe, der Hochſchnee in ſeiner Mächtigkeit und Konſiſtenz jahrein, jahraus ſich gleich blieben und tüchtige, lokalkundige Führer daher mit Zu¬ verſicht voraus wüßten, welche Hilfs- und Transport-Mittel man gebrauche, welcher Weg der beſte, wann die größte Kraftanſtren¬ gung von Nöthen und wo die drohendſte Gefahr zu beſtehen ſei. Aber erfahrungsgemäß iſt die Metamorphoſe des Terrains nirgends einer ſo ewigen Wandelung und Transfiguration unterworfen als in den hohen und höchſten Alpenregionen. Wo heuer Mulden und tiefe Schneebecken ſich zeigen, thürmen vielleicht im nächſten Jahre Schnee-Hügel und Weheten ſich auf; wo in dieſem Sommer Wege über Firnhalden gemächlich und leicht zu überwinden ſtetig anſteigen, ragen im kommenden, wenn er ſchneearm und andauernd heiß iſt, Felſenriffe und Geſteins-Grathe hervor, die geeignet ſind, den tüch¬ tigſten Führer völlig zu desorientiren. Solcher Ungewißheiten hal¬ ber, muß eine Expedition (abgeſehen von den Eventualitäten plötz¬ lich umſchlagender Witterung) immer auf das Schlimmſte gefaßt und vorbereitet ſein. Umſichtige Berggänger haben den Fundamental-Grundſatz: ſo lange als irgend möglich auf dem „Aberen“, d. h. auf dem von Schnee und Eis befreiten Raſen oder Felſen zu bleiben, weil hier in der Regel der Tritt ſicherer, das Klettern minder mühſam, über¬ haupt das Fortkommen raſcher möglich, ausgiebiger iſt als auf dem trügeriſchen, dem Menſchen fremden und feindlichen Element des Firnes und Gletſchers. Es iſt ungefähr der gleiche Gegenſatz wie zwiſchen der Fahrt auf feſtem Lande und jener auf dem Waſſer. Einzig, bei faulem, bröckelichem Geſtein und jähen Schutthalden und beim Hinabſteigen, wo man gewöhnlich die direkteſten Linien wählt, zieht man den Marſch auf dem Schnee vor. Die erſten bedeutenden Hinderniſſe im raſchen und direkten Aufſteigen veranlaſſen gewöhnlich die Gletſcherſpalten. Es

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/289>, abgerufen am 24.11.2024.