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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Gletscher.
belebtes Flimmern entsteht. Festen Fußes und sicheren Trittes läßt
sichs ganz gut über den schwitzenden, glanz-erfüllten Gletscher wan¬
dern; wer aber nicht derb zutritt und etwas Anlage zum Ausgleiten
hat, kann versichert sein, alle zwei bis drei Minuten im Nassen zu sitzen.
Diese unheimliche Lebendigkeit, dieses glurrende, singende Rieseln
in den netzförmig die Spiegelfläche überspinnenden Rinnen währt,
so lange die Sonne ihre auflösenden, frost-zersetzenden Strahlen
niedersendet; sobald diese hinter die umstehenden Berge tritt, ver¬
stummt allgemach das kleine Leben, der erstarrende Todeshauch
streift über die Eiswüste und bindet die rieselnden Tropfen wieder
zu Krystallen, und noch ehe es Nacht geworden, lagert lautlose
Grabesstille auch über diesem Alpenwinkel.

Das Weiterwandern würde nun gar keine Schwierigkeiten
haben, wenn nicht eine neue Zerklüftung des Gletschers, diesmal
aber nicht in aufrecht stehenden Trümmern, sondern nach unten,
sich zeigte. Es sind die berühmten und berüchtigten "Querspal¬
ten
oder Crevasses" welche bis zu bedeutender Höhe hinauf den
Gletscher durchziehen. Manche der alpinen Eismeere sind von
diesen Tiefrissen so durchsetzt und zerborsten, daß ein Wandern über
dieselben fast zur Unmöglichkeit wird, oder doch in ein Labyrinth
führt, aus welchem sich herauszufinden eine schwierige Aufgabe ist.
Es giebt der Beispiele genug, daß Reisende mit Führern bei nebel¬
freiem Wetter, am hellen Tage, auf Gletschern, die kaum eine halbe
Stunde breit waren, deren beiderseitige Felsenufer man also in
allernächster Nähe sehen konnte, sich so zwischen den Spalten ver¬
irrten, daß sie viele Stunden brauchten, um einen Ausweg zu finden.
Beispiele von Unglücksfällen sollen in dem später folgenden Ab¬
schnitte "Alpenspitzen" erzählt werden. Die Gletscherspalten
haben an der Oberfläche gewöhnlich eine sehr in die Länge gezo¬
gene elliptische Form, deren beide Enden spitz auslaufen. Breite
und Länge derselben variirt je nach der Abdachung und Mächtig¬
keit der Gletscher außerordentlich; es giebt solche, die, wenn sie

Der Gletſcher.
belebtes Flimmern entſteht. Feſten Fußes und ſicheren Trittes läßt
ſichs ganz gut über den ſchwitzenden, glanz-erfüllten Gletſcher wan¬
dern; wer aber nicht derb zutritt und etwas Anlage zum Ausgleiten
hat, kann verſichert ſein, alle zwei bis drei Minuten im Naſſen zu ſitzen.
Dieſe unheimliche Lebendigkeit, dieſes glurrende, ſingende Rieſeln
in den netzförmig die Spiegelfläche überſpinnenden Rinnen währt,
ſo lange die Sonne ihre auflöſenden, froſt-zerſetzenden Strahlen
niederſendet; ſobald dieſe hinter die umſtehenden Berge tritt, ver¬
ſtummt allgemach das kleine Leben, der erſtarrende Todeshauch
ſtreift über die Eiswüſte und bindet die rieſelnden Tropfen wieder
zu Kryſtallen, und noch ehe es Nacht geworden, lagert lautloſe
Grabesſtille auch über dieſem Alpenwinkel.

Das Weiterwandern würde nun gar keine Schwierigkeiten
haben, wenn nicht eine neue Zerklüftung des Gletſchers, diesmal
aber nicht in aufrecht ſtehenden Trümmern, ſondern nach unten,
ſich zeigte. Es ſind die berühmten und berüchtigten „Querſpal¬
ten
oder Crevasses“ welche bis zu bedeutender Höhe hinauf den
Gletſcher durchziehen. Manche der alpinen Eismeere ſind von
dieſen Tiefriſſen ſo durchſetzt und zerborſten, daß ein Wandern über
dieſelben faſt zur Unmöglichkeit wird, oder doch in ein Labyrinth
führt, aus welchem ſich herauszufinden eine ſchwierige Aufgabe iſt.
Es giebt der Beiſpiele genug, daß Reiſende mit Führern bei nebel¬
freiem Wetter, am hellen Tage, auf Gletſchern, die kaum eine halbe
Stunde breit waren, deren beiderſeitige Felſenufer man alſo in
allernächſter Nähe ſehen konnte, ſich ſo zwiſchen den Spalten ver¬
irrten, daß ſie viele Stunden brauchten, um einen Ausweg zu finden.
Beiſpiele von Unglücksfällen ſollen in dem ſpäter folgenden Ab¬
ſchnitte „Alpenſpitzen“ erzählt werden. Die Gletſcherſpalten
haben an der Oberfläche gewöhnlich eine ſehr in die Länge gezo¬
gene elliptiſche Form, deren beide Enden ſpitz auslaufen. Breite
und Länge derſelben variirt je nach der Abdachung und Mächtig¬
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[223/0255] Der Gletſcher. belebtes Flimmern entſteht. Feſten Fußes und ſicheren Trittes läßt ſichs ganz gut über den ſchwitzenden, glanz-erfüllten Gletſcher wan¬ dern; wer aber nicht derb zutritt und etwas Anlage zum Ausgleiten hat, kann verſichert ſein, alle zwei bis drei Minuten im Naſſen zu ſitzen. Dieſe unheimliche Lebendigkeit, dieſes glurrende, ſingende Rieſeln in den netzförmig die Spiegelfläche überſpinnenden Rinnen währt, ſo lange die Sonne ihre auflöſenden, froſt-zerſetzenden Strahlen niederſendet; ſobald dieſe hinter die umſtehenden Berge tritt, ver¬ ſtummt allgemach das kleine Leben, der erſtarrende Todeshauch ſtreift über die Eiswüſte und bindet die rieſelnden Tropfen wieder zu Kryſtallen, und noch ehe es Nacht geworden, lagert lautloſe Grabesſtille auch über dieſem Alpenwinkel. Das Weiterwandern würde nun gar keine Schwierigkeiten haben, wenn nicht eine neue Zerklüftung des Gletſchers, diesmal aber nicht in aufrecht ſtehenden Trümmern, ſondern nach unten, ſich zeigte. Es ſind die berühmten und berüchtigten „Querſpal¬ ten oder Crevasses“ welche bis zu bedeutender Höhe hinauf den Gletſcher durchziehen. Manche der alpinen Eismeere ſind von dieſen Tiefriſſen ſo durchſetzt und zerborſten, daß ein Wandern über dieſelben faſt zur Unmöglichkeit wird, oder doch in ein Labyrinth führt, aus welchem ſich herauszufinden eine ſchwierige Aufgabe iſt. Es giebt der Beiſpiele genug, daß Reiſende mit Führern bei nebel¬ freiem Wetter, am hellen Tage, auf Gletſchern, die kaum eine halbe Stunde breit waren, deren beiderſeitige Felſenufer man alſo in allernächſter Nähe ſehen konnte, ſich ſo zwiſchen den Spalten ver¬ irrten, daß ſie viele Stunden brauchten, um einen Ausweg zu finden. Beiſpiele von Unglücksfällen ſollen in dem ſpäter folgenden Ab¬ ſchnitte „Alpenſpitzen“ erzählt werden. Die Gletſcherſpalten haben an der Oberfläche gewöhnlich eine ſehr in die Länge gezo¬ gene elliptiſche Form, deren beide Enden ſpitz auslaufen. Breite und Länge derſelben variirt je nach der Abdachung und Mächtig¬ keit der Gletſcher außerordentlich; es giebt ſolche, die, wenn ſie

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/255>, abgerufen am 24.11.2024.