Die Meisten sehen schmutzig, wie mit Sand und zerstoßenem Berg¬ schutt bestreut aus, etwa einen verwandten Anblick bereitend als wie im Frühjahr, wenn nach bedeutendem Schneefall in den Städten Thauwetter eintritt. Es giebt Gletscher, die dermaßen mit Geröll und Gebirgsunrath überlagert sind, daß man auf eine lange Strecke hin gar kein Eis erblickt. Dieser schmutzige Bewurf rührt von den Mittel-Moränen oder Guffern her, die wir gleich näher werden kennen lernen.
Je weiter wir empordringen, desto zerklüfteter wird die Fläche, aber auch desto reiner tritt der Eiskörper wieder hervor. Da fesseln denn unsere Aufmerksamkeit zunächst auffallend-gestaltete, rissig-zer¬ klüftete, pyramidal-emporgezackte, riesige Eissplitter, die auf die Bruchkante gestellt, bald überhangend-geneigt, bald starr und trotzig auf breiter Basis, in positiver Haltung verharrend, das abenteuer¬ lichste Durcheinander plastischer Modelle vorführen. -- Noch einige Schritte hinaufklimmend am Gletscherrande, erreichen wir einen freien Aussichtspunkt. Himmel! welche Zerstörung, welches Klippen- und Zacken-Meer, welches wüste Formen-Gewirr? Was ist das Trümmerfeld eines Bergsturzes gegen dieses, ganz außer dem Gebiete unserer herkömmlichen Anschauungsweise liegende, mehr als phantastische Chaos? Hier ist nicht das Rohe, Steinbrüchige, Absolut-Anorganische der Felsen-Stürzlinge, wie wir es allent¬ halben schon sahen, -- hier leuchtet unverkennbar bildnerisches Element aus Allem hervor, ein ausgeartetes, uns völlig fremdes Formengesetz, zu dem wir jedoch den leitenden Gedanken nicht rasch genug herausfinden können, tritt uns entgegen. Unsere Augen schweifen beängstiget und neugierig-suchend umher, und immer mehr entdecken sie eine Grunddisposition, ohne jedoch den erwünschten Ruhe- und Anhaltspunkt finden zu können. Hat ein titanischer Architekt hier den Versuch gewagt, dem geisterhaften Alpenkönige aus Eisquadern ein Lustschloß errichten zu wollen, und hat er seinen ornamentalen Phantasieen in bizarrster Form Körper verliehen,
Der Gletſcher.
Die Meiſten ſehen ſchmutzig, wie mit Sand und zerſtoßenem Berg¬ ſchutt beſtreut aus, etwa einen verwandten Anblick bereitend als wie im Frühjahr, wenn nach bedeutendem Schneefall in den Städten Thauwetter eintritt. Es giebt Gletſcher, die dermaßen mit Geröll und Gebirgsunrath überlagert ſind, daß man auf eine lange Strecke hin gar kein Eis erblickt. Dieſer ſchmutzige Bewurf rührt von den Mittel-Moränen oder Guffern her, die wir gleich näher werden kennen lernen.
Je weiter wir empordringen, deſto zerklüfteter wird die Fläche, aber auch deſto reiner tritt der Eiskörper wieder hervor. Da feſſeln denn unſere Aufmerkſamkeit zunächſt auffallend-geſtaltete, riſſig-zer¬ klüftete, pyramidal-emporgezackte, rieſige Eisſplitter, die auf die Bruchkante geſtellt, bald überhangend-geneigt, bald ſtarr und trotzig auf breiter Baſis, in poſitiver Haltung verharrend, das abenteuer¬ lichſte Durcheinander plaſtiſcher Modelle vorführen. — Noch einige Schritte hinaufklimmend am Gletſcherrande, erreichen wir einen freien Ausſichtspunkt. Himmel! welche Zerſtörung, welches Klippen- und Zacken-Meer, welches wüſte Formen-Gewirr? Was iſt das Trümmerfeld eines Bergſturzes gegen dieſes, ganz außer dem Gebiete unſerer herkömmlichen Anſchauungsweiſe liegende, mehr als phantaſtiſche Chaos? Hier iſt nicht das Rohe, Steinbrüchige, Abſolut-Anorganiſche der Felſen-Stürzlinge, wie wir es allent¬ halben ſchon ſahen, — hier leuchtet unverkennbar bildneriſches Element aus Allem hervor, ein ausgeartetes, uns völlig fremdes Formengeſetz, zu dem wir jedoch den leitenden Gedanken nicht raſch genug herausfinden können, tritt uns entgegen. Unſere Augen ſchweifen beängſtiget und neugierig-ſuchend umher, und immer mehr entdecken ſie eine Grunddispoſition, ohne jedoch den erwünſchten Ruhe- und Anhaltspunkt finden zu können. Hat ein titaniſcher Architekt hier den Verſuch gewagt, dem geiſterhaften Alpenkönige aus Eisquadern ein Luſtſchloß errichten zu wollen, und hat er ſeinen ornamentalen Phantaſieen in bizarrſter Form Körper verliehen,
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Der Gletſcher.
Die Meiſten ſehen ſchmutzig, wie mit Sand und zerſtoßenem Berg¬
ſchutt beſtreut aus, etwa einen verwandten Anblick bereitend als
wie im Frühjahr, wenn nach bedeutendem Schneefall in den Städten
Thauwetter eintritt. Es giebt Gletſcher, die dermaßen mit Geröll und
Gebirgsunrath überlagert ſind, daß man auf eine lange Strecke hin
gar kein Eis erblickt. Dieſer ſchmutzige Bewurf rührt von den
Mittel-Moränen oder Guffern her, die wir gleich näher werden
kennen lernen.
Je weiter wir empordringen, deſto zerklüfteter wird die Fläche,
aber auch deſto reiner tritt der Eiskörper wieder hervor. Da feſſeln
denn unſere Aufmerkſamkeit zunächſt auffallend-geſtaltete, riſſig-zer¬
klüftete, pyramidal-emporgezackte, rieſige Eisſplitter, die auf die
Bruchkante geſtellt, bald überhangend-geneigt, bald ſtarr und trotzig
auf breiter Baſis, in poſitiver Haltung verharrend, das abenteuer¬
lichſte Durcheinander plaſtiſcher Modelle vorführen. — Noch
einige Schritte hinaufklimmend am Gletſcherrande, erreichen wir
einen freien Ausſichtspunkt. Himmel! welche Zerſtörung, welches
Klippen- und Zacken-Meer, welches wüſte Formen-Gewirr? Was
iſt das Trümmerfeld eines Bergſturzes gegen dieſes, ganz außer
dem Gebiete unſerer herkömmlichen Anſchauungsweiſe liegende, mehr
als phantaſtiſche Chaos? Hier iſt nicht das Rohe, Steinbrüchige,
Abſolut-Anorganiſche der Felſen-Stürzlinge, wie wir es allent¬
halben ſchon ſahen, — hier leuchtet unverkennbar bildneriſches
Element aus Allem hervor, ein ausgeartetes, uns völlig fremdes
Formengeſetz, zu dem wir jedoch den leitenden Gedanken nicht raſch
genug herausfinden können, tritt uns entgegen. Unſere Augen
ſchweifen beängſtiget und neugierig-ſuchend umher, und immer mehr
entdecken ſie eine Grunddispoſition, ohne jedoch den erwünſchten
Ruhe- und Anhaltspunkt finden zu können. Hat ein titaniſcher
Architekt hier den Verſuch gewagt, dem geiſterhaften Alpenkönige
aus Eisquadern ein Luſtſchloß errichten zu wollen, und hat er
ſeinen ornamentalen Phantaſieen in bizarrſter Form Körper verliehen,
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/252>, abgerufen am 24.11.2024.
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