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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Gletscher.

Wir steigen durch Wiesen und Arvenwald leicht bergan. Dichte
Baumgruppen verdecken noch alle Aussicht. Jetzt hellt es sich auf
und wir betreten, das Schattendunkel verlassend, nackten felsigen
Boden, der seltsamerweise in allerlei Hohlbuchtungen und wellen¬
förmigen Segmenten wie vom Bildhauer ausgemeißelt und abge¬
schliffen erscheint. Auf Trümmerhalden und kolossalen Steinblöcken
oder aus den Felsenritzen, deren Oeffnung sich mit Erde ausgefüllt
hat, wuchern, ein belebender Schmuck der öden Gehänge, leuchtend
blühende Alpenrosen in reichlicher Menge. Noch einen Bergriegel
umwandernd, -- und die Aussicht öffnet sich, -- wir stehen vor
der Stirn des Gletschers. Kirchthurmhohe Wände steigen auf und
versperren das weitere Vordringen. Ist das ein weiß überschneiter,
ursprünglich schmutzig-grauer Felsen, der hier in phantastischer Bild¬
nerei überhangend hervorragt? Dem widersprechen sofort transparent¬
schimmernde, glasartig-erscheinende Einschnitte in der Wand, die
wie tiefgelegte Falten sich längs derselben einschmiegen. Wir
klettern über merkwürdig aufgehäufte Blockwälle scharfkantiger Fel¬
senfragmente, roh aufgerichtete Barrikaden von bedeutender Höhe
und dringen von Neugierde getrieben näher gegen die räthselhafte
Wand vor. Jetzt entdecken wir am Fuße derselben einen weitge¬
wölbten Kanal, der in den feenhaftesten Farben schimmernd, nach
seiner Tiefe hinein sich in unbestimmte Nacht verliert. Jetzt ahnen
wir, daß wir vor einer gigantischen Eiswand stehen. Jenes graue
Gestein, welches wir im ersten Anblick für den selbsteigenen Körper
einer Felsenfronte hielten, sind nur eingebackene Gesteinsreste, mit
denen der Gletscher-Absturz überstreut ist. Nun erschließt sich uns
die erste Ahnung von der erschreckenden Massenhaftigkeit eines Glet¬
schers, -- nun erst drängt sich uns die Vermuthung auf, daß die
riesige Trümmerschanze, welche wir so eben überstiegen, aus Gesteins¬
scherben besteht, welche vom Gletscher herunterstürzten. Ein ober¬
flächlicher Blick, selbst wenn wir zuvor nie uns mit Mineralogie
beschäftigten, sagt uns, indem wir nach Stoff, Korn und Farbe

Der Gletſcher.

Wir ſteigen durch Wieſen und Arvenwald leicht bergan. Dichte
Baumgruppen verdecken noch alle Ausſicht. Jetzt hellt es ſich auf
und wir betreten, das Schattendunkel verlaſſend, nackten felſigen
Boden, der ſeltſamerweiſe in allerlei Hohlbuchtungen und wellen¬
förmigen Segmenten wie vom Bildhauer ausgemeißelt und abge¬
ſchliffen erſcheint. Auf Trümmerhalden und koloſſalen Steinblöcken
oder aus den Felſenritzen, deren Oeffnung ſich mit Erde ausgefüllt
hat, wuchern, ein belebender Schmuck der öden Gehänge, leuchtend
blühende Alpenroſen in reichlicher Menge. Noch einen Bergriegel
umwandernd, — und die Ausſicht öffnet ſich, — wir ſtehen vor
der Stirn des Gletſchers. Kirchthurmhohe Wände ſteigen auf und
verſperren das weitere Vordringen. Iſt das ein weiß überſchneiter,
urſprünglich ſchmutzig-grauer Felſen, der hier in phantaſtiſcher Bild¬
nerei überhangend hervorragt? Dem widerſprechen ſofort transparent¬
ſchimmernde, glasartig-erſcheinende Einſchnitte in der Wand, die
wie tiefgelegte Falten ſich längs derſelben einſchmiegen. Wir
klettern über merkwürdig aufgehäufte Blockwälle ſcharfkantiger Fel¬
ſenfragmente, roh aufgerichtete Barrikaden von bedeutender Höhe
und dringen von Neugierde getrieben näher gegen die räthſelhafte
Wand vor. Jetzt entdecken wir am Fuße derſelben einen weitge¬
wölbten Kanal, der in den feenhafteſten Farben ſchimmernd, nach
ſeiner Tiefe hinein ſich in unbeſtimmte Nacht verliert. Jetzt ahnen
wir, daß wir vor einer gigantiſchen Eiswand ſtehen. Jenes graue
Geſtein, welches wir im erſten Anblick für den ſelbſteigenen Körper
einer Felſenfronte hielten, ſind nur eingebackene Geſteinsreſte, mit
denen der Gletſcher-Abſturz überſtreut iſt. Nun erſchließt ſich uns
die erſte Ahnung von der erſchreckenden Maſſenhaftigkeit eines Glet¬
ſchers, — nun erſt drängt ſich uns die Vermuthung auf, daß die
rieſige Trümmerſchanze, welche wir ſo eben überſtiegen, aus Geſteins¬
ſcherben beſteht, welche vom Gletſcher herunterſtürzten. Ein ober¬
flächlicher Blick, ſelbſt wenn wir zuvor nie uns mit Mineralogie
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[217/0249] Der Gletſcher. Wir ſteigen durch Wieſen und Arvenwald leicht bergan. Dichte Baumgruppen verdecken noch alle Ausſicht. Jetzt hellt es ſich auf und wir betreten, das Schattendunkel verlaſſend, nackten felſigen Boden, der ſeltſamerweiſe in allerlei Hohlbuchtungen und wellen¬ förmigen Segmenten wie vom Bildhauer ausgemeißelt und abge¬ ſchliffen erſcheint. Auf Trümmerhalden und koloſſalen Steinblöcken oder aus den Felſenritzen, deren Oeffnung ſich mit Erde ausgefüllt hat, wuchern, ein belebender Schmuck der öden Gehänge, leuchtend blühende Alpenroſen in reichlicher Menge. Noch einen Bergriegel umwandernd, — und die Ausſicht öffnet ſich, — wir ſtehen vor der Stirn des Gletſchers. Kirchthurmhohe Wände ſteigen auf und verſperren das weitere Vordringen. Iſt das ein weiß überſchneiter, urſprünglich ſchmutzig-grauer Felſen, der hier in phantaſtiſcher Bild¬ nerei überhangend hervorragt? Dem widerſprechen ſofort transparent¬ ſchimmernde, glasartig-erſcheinende Einſchnitte in der Wand, die wie tiefgelegte Falten ſich längs derſelben einſchmiegen. Wir klettern über merkwürdig aufgehäufte Blockwälle ſcharfkantiger Fel¬ ſenfragmente, roh aufgerichtete Barrikaden von bedeutender Höhe und dringen von Neugierde getrieben näher gegen die räthſelhafte Wand vor. Jetzt entdecken wir am Fuße derſelben einen weitge¬ wölbten Kanal, der in den feenhafteſten Farben ſchimmernd, nach ſeiner Tiefe hinein ſich in unbeſtimmte Nacht verliert. Jetzt ahnen wir, daß wir vor einer gigantiſchen Eiswand ſtehen. Jenes graue Geſtein, welches wir im erſten Anblick für den ſelbſteigenen Körper einer Felſenfronte hielten, ſind nur eingebackene Geſteinsreſte, mit denen der Gletſcher-Abſturz überſtreut iſt. Nun erſchließt ſich uns die erſte Ahnung von der erſchreckenden Maſſenhaftigkeit eines Glet¬ ſchers, — nun erſt drängt ſich uns die Vermuthung auf, daß die rieſige Trümmerſchanze, welche wir ſo eben überſtiegen, aus Geſteins¬ ſcherben beſteht, welche vom Gletſcher herunterſtürzten. Ein ober¬ flächlicher Blick, ſelbſt wenn wir zuvor nie uns mit Mineralogie beſchäftigten, ſagt uns, indem wir nach Stoff, Korn und Farbe

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/249>, abgerufen am 24.11.2024.