Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Gletscher. die Arme wirft und ihren, erst in der Bildung begriffenen, nochzusammenhanglosen Schnee-Körper in irgend einem abgelegenen Gebirgswinkel des Thales wie ein Selbstmörder verborgen der Auflösung anheimgiebt, -- der Gletscher ist ein alter besonnener Oekonom im Gebirgshaushalte, der anscheinend faul und stillstehend, dennoch in ununterbrochener Thätigkeit, mit ruhigem praktischen Takt, das Uebermaß des lockeren Hochgebirgsschnees sammelt und zu festem, körperhaftem Eis verdichtet, langsam ins Thal hinabbe¬ fördert. Er ist einer der vielen tausend wunderbaren Beweise von der Alles regelnden göttlichen Anordnung im großen Organismus des Naturlebens, die jedem Ding sein Maß und Ziel giebt und durch den großen Kreislauf der Materie vor dem absoluten Tode bewahrt. Alles, was im Sommer von den Höhen der Schneeregion und Der Gletſcher. die Arme wirft und ihren, erſt in der Bildung begriffenen, nochzuſammenhangloſen Schnee-Körper in irgend einem abgelegenen Gebirgswinkel des Thales wie ein Selbſtmörder verborgen der Auflöſung anheimgiebt, — der Gletſcher iſt ein alter beſonnener Oekonom im Gebirgshaushalte, der anſcheinend faul und ſtillſtehend, dennoch in ununterbrochener Thätigkeit, mit ruhigem praktiſchen Takt, das Uebermaß des lockeren Hochgebirgsſchnees ſammelt und zu feſtem, körperhaftem Eis verdichtet, langſam ins Thal hinabbe¬ fördert. Er iſt einer der vielen tauſend wunderbaren Beweiſe von der Alles regelnden göttlichen Anordnung im großen Organismus des Naturlebens, die jedem Ding ſein Maß und Ziel giebt und durch den großen Kreislauf der Materie vor dem abſoluten Tode bewahrt. Alles, was im Sommer von den Höhen der Schneeregion und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0246" n="214"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Gletſcher</hi>.<lb/></fw> die Arme wirft und ihren, erſt in der Bildung begriffenen, noch<lb/> zuſammenhangloſen Schnee-Körper in irgend einem abgelegenen<lb/> Gebirgswinkel des Thales wie ein Selbſtmörder verborgen der<lb/> Auflöſung anheimgiebt, — der Gletſcher iſt ein alter beſonnener<lb/> Oekonom im Gebirgshaushalte, der anſcheinend faul und ſtillſtehend,<lb/> dennoch in ununterbrochener Thätigkeit, mit ruhigem praktiſchen<lb/> Takt, das Uebermaß des lockeren Hochgebirgsſchnees ſammelt und<lb/> zu feſtem, körperhaftem Eis verdichtet, langſam ins Thal hinabbe¬<lb/> fördert. Er iſt einer der vielen tauſend wunderbaren Beweiſe von<lb/> der Alles regelnden göttlichen Anordnung im großen Organismus<lb/> des Naturlebens, die jedem Ding ſein Maß und Ziel giebt und<lb/> durch den großen Kreislauf der Materie vor dem abſoluten Tode<lb/> bewahrt.</p><lb/> <p>Alles, was im Sommer von den Höhen der Schneeregion und<lb/> eingeſchaltet in die Gebirgsrinnen weiß ins Thal, ins Alpendorf<lb/> herableuchtet, nennt der deutſche Schweizerbauer ſummariſch „<hi rendition="#g">Glet¬<lb/> ſcher</hi>“, der Tyroler „<hi rendition="#g">Ferner</hi>“, der Romane „<hi rendition="#aq #g">Vadret</hi>“, der<lb/> Unter-Walliſer und Savoyarde „<hi rendition="#aq #g">Glacier</hi>“. Er macht keinen<lb/> phyſikaliſchen Unterſchied zwiſchen Schnee und Eis, ihm iſt Beides<lb/> ziemlich identiſch. Anders die Wiſſenſchaft; ſie unterſcheidet dem<lb/> Material und ſeiner Dichtheit, ſeiner Höhenlage nach, den lockeren<lb/><hi rendition="#g">Hochgebirgsſchnee</hi> über 10,000 Fuß Höhe, von dem tiefer<lb/> vorkommenden, grieſelich-körnigen, älteren „<hi rendition="#g">Firn-Schnee</hi>“, (der<lb/> eben ſeinen Namen von der Bezeichnung „Fern“, welches im Idiom<lb/> „vorjährig“ bedeutet, erhielt) — und dieſen wieder vom eigentlichen<lb/> durchſichtigen, kompakten <hi rendition="#g">Gletſcher-Eis</hi>. Letzteres entſteht aus<lb/> Erſterem durch eine Menge unvermerkt vor ſich gehender Umwande¬<lb/> lungen dieſer kryſtalliniſchen Waſſerformen. Es repräſentirt ſomit der<lb/> feine Hochſchnee in den höchſten Regionen gleichſam die Periode<lb/> der Kindheit. Durch eigene Schwere und Druck der hinterliegenden<lb/> Maſſen gleitet er langſam tiefer und wird nach und nach durch<lb/> Wärme-Einwirkung inniger zu körnigen Konglomeraten verbunden,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [214/0246]
Der Gletſcher.
die Arme wirft und ihren, erſt in der Bildung begriffenen, noch
zuſammenhangloſen Schnee-Körper in irgend einem abgelegenen
Gebirgswinkel des Thales wie ein Selbſtmörder verborgen der
Auflöſung anheimgiebt, — der Gletſcher iſt ein alter beſonnener
Oekonom im Gebirgshaushalte, der anſcheinend faul und ſtillſtehend,
dennoch in ununterbrochener Thätigkeit, mit ruhigem praktiſchen
Takt, das Uebermaß des lockeren Hochgebirgsſchnees ſammelt und
zu feſtem, körperhaftem Eis verdichtet, langſam ins Thal hinabbe¬
fördert. Er iſt einer der vielen tauſend wunderbaren Beweiſe von
der Alles regelnden göttlichen Anordnung im großen Organismus
des Naturlebens, die jedem Ding ſein Maß und Ziel giebt und
durch den großen Kreislauf der Materie vor dem abſoluten Tode
bewahrt.
Alles, was im Sommer von den Höhen der Schneeregion und
eingeſchaltet in die Gebirgsrinnen weiß ins Thal, ins Alpendorf
herableuchtet, nennt der deutſche Schweizerbauer ſummariſch „Glet¬
ſcher“, der Tyroler „Ferner“, der Romane „Vadret“, der
Unter-Walliſer und Savoyarde „Glacier“. Er macht keinen
phyſikaliſchen Unterſchied zwiſchen Schnee und Eis, ihm iſt Beides
ziemlich identiſch. Anders die Wiſſenſchaft; ſie unterſcheidet dem
Material und ſeiner Dichtheit, ſeiner Höhenlage nach, den lockeren
Hochgebirgsſchnee über 10,000 Fuß Höhe, von dem tiefer
vorkommenden, grieſelich-körnigen, älteren „Firn-Schnee“, (der
eben ſeinen Namen von der Bezeichnung „Fern“, welches im Idiom
„vorjährig“ bedeutet, erhielt) — und dieſen wieder vom eigentlichen
durchſichtigen, kompakten Gletſcher-Eis. Letzteres entſteht aus
Erſterem durch eine Menge unvermerkt vor ſich gehender Umwande¬
lungen dieſer kryſtalliniſchen Waſſerformen. Es repräſentirt ſomit der
feine Hochſchnee in den höchſten Regionen gleichſam die Periode
der Kindheit. Durch eigene Schwere und Druck der hinterliegenden
Maſſen gleitet er langſam tiefer und wird nach und nach durch
Wärme-Einwirkung inniger zu körnigen Konglomeraten verbunden,
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