Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Die Lauine. unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬klopische Felsenquadern, wuchtige Eismarren und zerrissene Rasen¬ fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was dem freien Auge wie harmlos herabschwebende Schaummasse er¬ schien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt uns, wie überall in den Alpen, so auch hier für die Entfernung, jeglicher Maßstab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen sind, an deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabstürzt. Würde man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine sich begrub, in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem sie sich ablöste, subtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der Sekunden (so lange das Naturspiel währte) dividiren, so würde man einen Geschwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬ halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte. Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichster Nähe gesehen ist Die Lauine. unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬klopiſche Felſenquadern, wuchtige Eismarren und zerriſſene Raſen¬ fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was dem freien Auge wie harmlos herabſchwebende Schaummaſſe er¬ ſchien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt uns, wie überall in den Alpen, ſo auch hier für die Entfernung, jeglicher Maßſtab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen ſind, an deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabſtürzt. Würde man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine ſich begrub, in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem ſie ſich ablöſte, ſubtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der Sekunden (ſo lange das Naturſpiel währte) dividiren, ſo würde man einen Geſchwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬ halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte. Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichſter Nähe geſehen iſt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0237" n="207"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Die Lauine</hi>.<lb/></fw> unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬<lb/> klopiſche Felſenquadern, wuchtige Eismarren und zerriſſene Raſen¬<lb/> fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was<lb/> dem freien Auge wie harmlos herabſchwebende Schaummaſſe er¬<lb/> ſchien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt<lb/> uns, wie überall in den Alpen, ſo auch hier für die Entfernung,<lb/> jeglicher Maßſtab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen ſind, an<lb/> deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabſtürzt. Würde<lb/> man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine ſich begrub,<lb/> in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem ſie ſich ablöſte,<lb/> ſubtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der<lb/> Sekunden (ſo lange das Naturſpiel währte) dividiren, ſo würde<lb/> man einen Geſchwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬<lb/> halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte.</p><lb/> <p>Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichſter Nähe geſehen iſt<lb/> Entſetzen-erregend, faſt unbeſchreiblich. Alle Worte und Bezeich¬<lb/> nungen ſind unzureichend, um dieſes Chaos, dieſe völlige Auf¬<lb/> löſung, dieſe gemeinſchaftliche, augenblicklich zugleich ſich entwickelnde<lb/> Orkan-, Erdbeben-, Bergſturz- und Gewitter-Erſcheinung zu ſchildern.<lb/> Aufruhr, Flucht, Zerſtörung, Vernichtung, begleitet von raſendem<lb/> in einander verwobenem Knirſchen des ſich ſelbſt zerpreſſenden<lb/> Schnees, dem ſtöhnenden Krachen zerſplitternder Bäume, dem<lb/> ziſchenden Fliegen geſchleuderter Felsgeſteine und deren krachendem<lb/> Anprall an die Gebirgswände, ſchrillem Gepraſſel, — genug unde¬<lb/> finirbarem, ohrenbetäubendem Getümmel, deſſen Echo aus allen<lb/> Thal-Ecken hundertfältig zurückgeſchleudert aufs Neue ſich in dieſes<lb/> Wüthen vermengt, das iſt der Total-Eindruck einer Grund-Lauine in<lb/> der Nähe. — Ihr Material iſt fetter, dichter, ſchwerer als das<lb/> luftiger Staub-Lauinen; darum keilt es ſich auch mit eiſerner Zähig¬<lb/> keit, dort wo es hineinfällt, feſt. Perſonen und Thiere von einer<lb/> Schlag-Lauine verſchüttet, ſind meiſt unrettbar verloren; ſie bricht<lb/> ihnen das Genick und Rückgrath, oder legt ſich hermetiſch dicht um den<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [207/0237]
Die Lauine.
unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬
klopiſche Felſenquadern, wuchtige Eismarren und zerriſſene Raſen¬
fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was
dem freien Auge wie harmlos herabſchwebende Schaummaſſe er¬
ſchien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt
uns, wie überall in den Alpen, ſo auch hier für die Entfernung,
jeglicher Maßſtab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen ſind, an
deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabſtürzt. Würde
man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine ſich begrub,
in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem ſie ſich ablöſte,
ſubtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der
Sekunden (ſo lange das Naturſpiel währte) dividiren, ſo würde
man einen Geſchwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬
halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte.
Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichſter Nähe geſehen iſt
Entſetzen-erregend, faſt unbeſchreiblich. Alle Worte und Bezeich¬
nungen ſind unzureichend, um dieſes Chaos, dieſe völlige Auf¬
löſung, dieſe gemeinſchaftliche, augenblicklich zugleich ſich entwickelnde
Orkan-, Erdbeben-, Bergſturz- und Gewitter-Erſcheinung zu ſchildern.
Aufruhr, Flucht, Zerſtörung, Vernichtung, begleitet von raſendem
in einander verwobenem Knirſchen des ſich ſelbſt zerpreſſenden
Schnees, dem ſtöhnenden Krachen zerſplitternder Bäume, dem
ziſchenden Fliegen geſchleuderter Felsgeſteine und deren krachendem
Anprall an die Gebirgswände, ſchrillem Gepraſſel, — genug unde¬
finirbarem, ohrenbetäubendem Getümmel, deſſen Echo aus allen
Thal-Ecken hundertfältig zurückgeſchleudert aufs Neue ſich in dieſes
Wüthen vermengt, das iſt der Total-Eindruck einer Grund-Lauine in
der Nähe. — Ihr Material iſt fetter, dichter, ſchwerer als das
luftiger Staub-Lauinen; darum keilt es ſich auch mit eiſerner Zähig¬
keit, dort wo es hineinfällt, feſt. Perſonen und Thiere von einer
Schlag-Lauine verſchüttet, ſind meiſt unrettbar verloren; ſie bricht
ihnen das Genick und Rückgrath, oder legt ſich hermetiſch dicht um den
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