eine Thalstrecke in Davos (Graubünden) zwischen Glaris und Wiesen, vorzugsweise und die Eigenschaft zum Eigennamen erhe¬ bend "in der Züga" genannt. -- Wo Häuser und Ställe in sol¬ chen ungeheuerlichen Gegenden erbaut werden mußten, stellte die Vorsicht der Thalbewohner dieselben immer auf Vorsprünge der Berg-Gehänge, über welche Schneestürze voraussichtlich nicht herein¬ brechen können. Alle permanenten Lauinenzüge haben selbstständige Namen erhalten; so z. B. im Haslithal die Golper-, Schütz-, Mäder- und Loch-Laui, -- am Mettenberg ob Grindelwald die Breit- und Schmal-, die Steg-, Doldis-, Brunnhorn- und Hochthurm-Lauine. Mitunter aber scheint ein Berg wie auseinanderfallend sich in lau¬ ter kleine Lauinen auflösen zu wollen, und dann reichen keine Namen mehr hin, die Zahl der Schneestürze vollständig anzuzeigen.
Eben so irrthümlich wie vielseitig das Entstehen der Lauinen aufgefaßt wird, eben so unrichtig ist oft das Bild, welches die Phantasie sich von der äußeren Erscheinung des Phänomens wäh¬ rend des Sturzes entwirft. Es ist kein kugelnder Ballen, wie man wohl glaubt, der oben in der Bildungsheimath klein wie ein Kohlkopf, nun durchs Herabrollen und durch das massenhafte An¬ hängen der Schneetheilchen immer größer wird, und endlich einem Globus von kolossalem Durchmesser gleicht, der unten erst, wie eine Bombe zerplatzend, seine Schneeladungen ausstreut; ein solch progressives, sphärisches Formen, -- wie man es vor Eintritt des Thauwetters im Tieflandswinter wohl spielweise von Knaben ausführen sieht, wenn sie einen Schneemann bauen wollen, -- würde mindestens eine gleichmäßig geneigte, von keinen Felsentreppen und Fluhwänden unterbrochene, also der Hügelformation ähnliche Abdachung eines Berges voraussetzen. Der Sturz einer Lauine, jeder Gattung, gleicht fast immer dem Bilde eines in völligsten Schaum aufgelösten Wasserfalles. Gewöhnlich hört man den Sturz früher, als man ihn sieht. Durch den donnernden Schall plötz¬ lich aufgeschreckt, richtet der Blick des mit der außerordentlichen
Die Lauine.
eine Thalſtrecke in Davos (Graubünden) zwiſchen Glaris und Wieſen, vorzugsweiſe und die Eigenſchaft zum Eigennamen erhe¬ bend „in der Züga“ genannt. — Wo Häuſer und Ställe in ſol¬ chen ungeheuerlichen Gegenden erbaut werden mußten, ſtellte die Vorſicht der Thalbewohner dieſelben immer auf Vorſprünge der Berg-Gehänge, über welche Schneeſtürze vorausſichtlich nicht herein¬ brechen können. Alle permanenten Lauinenzüge haben ſelbſtſtändige Namen erhalten; ſo z. B. im Haslithal die Golper-, Schütz-, Mäder- und Loch-Laui, — am Mettenberg ob Grindelwald die Breit- und Schmal-, die Steg-, Doldis-, Brunnhorn- und Hochthurm-Lauine. Mitunter aber ſcheint ein Berg wie auseinanderfallend ſich in lau¬ ter kleine Lauinen auflöſen zu wollen, und dann reichen keine Namen mehr hin, die Zahl der Schneeſtürze vollſtändig anzuzeigen.
Eben ſo irrthümlich wie vielſeitig das Entſtehen der Lauinen aufgefaßt wird, eben ſo unrichtig iſt oft das Bild, welches die Phantaſie ſich von der äußeren Erſcheinung des Phänomens wäh¬ rend des Sturzes entwirft. Es iſt kein kugelnder Ballen, wie man wohl glaubt, der oben in der Bildungsheimath klein wie ein Kohlkopf, nun durchs Herabrollen und durch das maſſenhafte An¬ hängen der Schneetheilchen immer größer wird, und endlich einem Globus von koloſſalem Durchmeſſer gleicht, der unten erſt, wie eine Bombe zerplatzend, ſeine Schneeladungen ausſtreut; ein ſolch progreſſives, ſphäriſches Formen, — wie man es vor Eintritt des Thauwetters im Tieflandswinter wohl ſpielweiſe von Knaben ausführen ſieht, wenn ſie einen Schneemann bauen wollen, — würde mindeſtens eine gleichmäßig geneigte, von keinen Felſentreppen und Fluhwänden unterbrochene, alſo der Hügelformation ähnliche Abdachung eines Berges vorausſetzen. Der Sturz einer Lauine, jeder Gattung, gleicht faſt immer dem Bilde eines in völligſten Schaum aufgelöſten Waſſerfalles. Gewöhnlich hört man den Sturz früher, als man ihn ſieht. Durch den donnernden Schall plötz¬ lich aufgeſchreckt, richtet der Blick des mit der außerordentlichen
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Die Lauine.
eine Thalſtrecke in Davos (Graubünden) zwiſchen Glaris und
Wieſen, vorzugsweiſe und die Eigenſchaft zum Eigennamen erhe¬
bend „in der Züga“ genannt. — Wo Häuſer und Ställe in ſol¬
chen ungeheuerlichen Gegenden erbaut werden mußten, ſtellte die
Vorſicht der Thalbewohner dieſelben immer auf Vorſprünge der
Berg-Gehänge, über welche Schneeſtürze vorausſichtlich nicht herein¬
brechen können. Alle permanenten Lauinenzüge haben ſelbſtſtändige
Namen erhalten; ſo z. B. im Haslithal die Golper-, Schütz-, Mäder-
und Loch-Laui, — am Mettenberg ob Grindelwald die Breit- und
Schmal-, die Steg-, Doldis-, Brunnhorn- und Hochthurm-Lauine.
Mitunter aber ſcheint ein Berg wie auseinanderfallend ſich in lau¬
ter kleine Lauinen auflöſen zu wollen, und dann reichen keine
Namen mehr hin, die Zahl der Schneeſtürze vollſtändig anzuzeigen.
Eben ſo irrthümlich wie vielſeitig das Entſtehen der Lauinen
aufgefaßt wird, eben ſo unrichtig iſt oft das Bild, welches die
Phantaſie ſich von der äußeren Erſcheinung des Phänomens wäh¬
rend des Sturzes entwirft. Es iſt kein kugelnder Ballen, wie
man wohl glaubt, der oben in der Bildungsheimath klein wie ein
Kohlkopf, nun durchs Herabrollen und durch das maſſenhafte An¬
hängen der Schneetheilchen immer größer wird, und endlich einem
Globus von koloſſalem Durchmeſſer gleicht, der unten erſt, wie
eine Bombe zerplatzend, ſeine Schneeladungen ausſtreut; ein ſolch
progreſſives, ſphäriſches Formen, — wie man es vor Eintritt des
Thauwetters im Tieflandswinter wohl ſpielweiſe von Knaben
ausführen ſieht, wenn ſie einen Schneemann bauen wollen, —
würde mindeſtens eine gleichmäßig geneigte, von keinen Felſentreppen
und Fluhwänden unterbrochene, alſo der Hügelformation ähnliche
Abdachung eines Berges vorausſetzen. Der Sturz einer Lauine,
jeder Gattung, gleicht faſt immer dem Bilde eines in völligſten
Schaum aufgelöſten Waſſerfalles. Gewöhnlich hört man den Sturz
früher, als man ihn ſieht. Durch den donnernden Schall plötz¬
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/235>, abgerufen am 16.02.2025.
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