gerade bei diesen fliegenden Schnee-Schmetterwolken auch andere Hebel Bewegung-hervorrufend wirken. Bei diesem auf geneigter glatter Fläche ruhenden Staubschnee genügt irgend ein gegebener Anstoß, um viele Juchart große Schneefelder ins Rutschen zu bringen, und hier ist die Entstehung der vulgären, in den Sprach¬ gebrauch übergegangenen parabolischen Redensart von dem: "Lawi¬ nen-ähnlichen Anwachsen" zu suchen.
Die denkwürdigsten Unglücksfälle in den Alpen sind durch den Ausbruch solcher Staub-Lauinen entstanden. Im Jahre 1719 am 14. Januar zerstörte eine solche das Dorf Leukerbad im Wallis bis auf wenig Hütten, und schüttete eine solche unerhörte Schnee¬ last auf die Häuser, daß nur ein geringer Theil der in ihren Wohnungen lebendig Begrabenen sich wieder ans Tageslicht arbei¬ ten konnte. Ein Knabe, Stephan Roth, war volle acht Tage lang ohne Speise und Trank in einem Winkel des Kellers einge¬ bannt und vermochte mit seinen geringen Kräften nicht den eisigen Kerker zu zerstören. Laut sang er zum Lobe Gottes Psalmen und Kirchenlieder, und wurde dadurch bei den energischen Nachgrabungen gehört, befreit und aus seiner Nacht hervorgezogen. Ungeachtet aller Pflege starb er in der nächsten Woche; 55 Menschen-Opfer hatte das Ungeheuer verschlungen. -- Im darauf folgenden Jahre begaben sich, bei außergewöhnlich starkem Schneefall, auch enorm viele Lauinen-Unfälle; im Dorfe Obergestelen (Wallis) wurden im Februar 120 Häuser und Ställe mit 84 Menschen und über 400 Stück Vieh von einer Lauine erschlagen, und eine andere ver¬ schüttete zu Fettan im Unterengadin im gleichen Jahre 61 Men¬ schen. In der Gegend von Brieg im Wallis kamen 40 Menschen ums Leben, ungerechnet der vielen einzelnen Fälle am großen St. Bernhard, im Viescher-Thale u. a. O. Anno 1749 wurde beinahe das ganze Dorf Ruäras im Tavetsch (Graubünden) von einer solchen Lauine, die an dem 2 Stunden entfernten Crispalt herniederbrauste, mit fortgerissen und über 100 Menschen in der¬
Die Lauine.
gerade bei dieſen fliegenden Schnee-Schmetterwolken auch andere Hebel Bewegung-hervorrufend wirken. Bei dieſem auf geneigter glatter Fläche ruhenden Staubſchnee genügt irgend ein gegebener Anſtoß, um viele Juchart große Schneefelder ins Rutſchen zu bringen, und hier iſt die Entſtehung der vulgären, in den Sprach¬ gebrauch übergegangenen paraboliſchen Redensart von dem: „Lawi¬ nen-ähnlichen Anwachſen“ zu ſuchen.
Die denkwürdigſten Unglücksfälle in den Alpen ſind durch den Ausbruch ſolcher Staub-Lauinen entſtanden. Im Jahre 1719 am 14. Januar zerſtörte eine ſolche das Dorf Leukerbad im Wallis bis auf wenig Hütten, und ſchüttete eine ſolche unerhörte Schnee¬ laſt auf die Häuſer, daß nur ein geringer Theil der in ihren Wohnungen lebendig Begrabenen ſich wieder ans Tageslicht arbei¬ ten konnte. Ein Knabe, Stephan Roth, war volle acht Tage lang ohne Speiſe und Trank in einem Winkel des Kellers einge¬ bannt und vermochte mit ſeinen geringen Kräften nicht den eiſigen Kerker zu zerſtören. Laut ſang er zum Lobe Gottes Pſalmen und Kirchenlieder, und wurde dadurch bei den energiſchen Nachgrabungen gehört, befreit und aus ſeiner Nacht hervorgezogen. Ungeachtet aller Pflege ſtarb er in der nächſten Woche; 55 Menſchen-Opfer hatte das Ungeheuer verſchlungen. — Im darauf folgenden Jahre begaben ſich, bei außergewöhnlich ſtarkem Schneefall, auch enorm viele Lauinen-Unfälle; im Dorfe Obergeſtelen (Wallis) wurden im Februar 120 Häuſer und Ställe mit 84 Menſchen und über 400 Stück Vieh von einer Lauine erſchlagen, und eine andere ver¬ ſchüttete zu Fettan im Unterengadin im gleichen Jahre 61 Men¬ ſchen. In der Gegend von Brieg im Wallis kamen 40 Menſchen ums Leben, ungerechnet der vielen einzelnen Fälle am großen St. Bernhard, im Vieſcher-Thale u. a. O. Anno 1749 wurde beinahe das ganze Dorf Ruäras im Tavetſch (Graubünden) von einer ſolchen Lauine, die an dem 2 Stunden entfernten Criſpalt herniederbrauſte, mit fortgeriſſen und über 100 Menſchen in der¬
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Die Lauine.
gerade bei dieſen fliegenden Schnee-Schmetterwolken auch andere
Hebel Bewegung-hervorrufend wirken. Bei dieſem auf geneigter
glatter Fläche ruhenden Staubſchnee genügt irgend ein gegebener
Anſtoß, um viele Juchart große Schneefelder ins Rutſchen zu
bringen, und hier iſt die Entſtehung der vulgären, in den Sprach¬
gebrauch übergegangenen paraboliſchen Redensart von dem: „Lawi¬
nen-ähnlichen Anwachſen“ zu ſuchen.
Die denkwürdigſten Unglücksfälle in den Alpen ſind durch den
Ausbruch ſolcher Staub-Lauinen entſtanden. Im Jahre 1719 am
14. Januar zerſtörte eine ſolche das Dorf Leukerbad im Wallis
bis auf wenig Hütten, und ſchüttete eine ſolche unerhörte Schnee¬
laſt auf die Häuſer, daß nur ein geringer Theil der in ihren
Wohnungen lebendig Begrabenen ſich wieder ans Tageslicht arbei¬
ten konnte. Ein Knabe, Stephan Roth, war volle acht Tage
lang ohne Speiſe und Trank in einem Winkel des Kellers einge¬
bannt und vermochte mit ſeinen geringen Kräften nicht den eiſigen
Kerker zu zerſtören. Laut ſang er zum Lobe Gottes Pſalmen und
Kirchenlieder, und wurde dadurch bei den energiſchen Nachgrabungen
gehört, befreit und aus ſeiner Nacht hervorgezogen. Ungeachtet
aller Pflege ſtarb er in der nächſten Woche; 55 Menſchen-Opfer
hatte das Ungeheuer verſchlungen. — Im darauf folgenden Jahre
begaben ſich, bei außergewöhnlich ſtarkem Schneefall, auch enorm
viele Lauinen-Unfälle; im Dorfe Obergeſtelen (Wallis) wurden im
Februar 120 Häuſer und Ställe mit 84 Menſchen und über 400
Stück Vieh von einer Lauine erſchlagen, und eine andere ver¬
ſchüttete zu Fettan im Unterengadin im gleichen Jahre 61 Men¬
ſchen. In der Gegend von Brieg im Wallis kamen 40 Menſchen
ums Leben, ungerechnet der vielen einzelnen Fälle am großen
St. Bernhard, im Vieſcher-Thale u. a. O. Anno 1749 wurde
beinahe das ganze Dorf Ruäras im Tavetſch (Graubünden) von
einer ſolchen Lauine, die an dem 2 Stunden entfernten Criſpalt
herniederbrauſte, mit fortgeriſſen und über 100 Menſchen in der¬
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/228>, abgerufen am 22.11.2024.
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