zartes Geräusch, das nicht von einer einzelnen Stelle herkommt, sondern den Zuschauer allenthalben wie Geisterstimmen zu umgeben scheint. Hieraus ergiebt sich, was Künstler gegen diese Naturschön¬ heit einwenden; der gerade Fall bietet ihnen zu wenig Anhalte¬ punkte für malerische Unterbrechungen, -- die Weichheit in der successiven Bewegung der Massen verwandelt sich auf der Leinwand in steifen Stillstand, und weder das Glanzlicht des Wassers noch die Zauberschimmer der Regenbogen lassen sich im Gemälde so wiedergeben, daß sie ästhetisch schön und durchsichtig erscheinen.
Die erste Bedingung zum Vollgenuß seiner Schönheit ist Sonnenglanz; dieser währt an den längsten Sommertagen von un¬ gefähr 7 Uhr Morgens bis Mittags, weil er von demjenigen Berge selbst dem Bach entzogen wird, über dessen unterste Stufen er sich hinabwirft. Nicht nur die Regenbogen im Kessel, wo die zerstobenen Wasser sich sammeln, -- auch die fliegenden Wasser¬ flocken in der Luft bedürfen des Sonnenscheines. Jedes Stäub¬ chen wird bemerkbar durch seine Vermittelung, und der Inhalt der Nebelsäule scheint doppelt so groß, wenn die Gunst der Tages¬ königin ihr unverkümmert strahlt. Zugleich ergötzt in hohem Grade der Schatten des Baches an der Felswand; er scheint ein zweites, stygisch-geschwärztes, mit wetteifernder Schnelle herabschwebendes Gewässer zu sein.
Man schreitet gewöhnlich zuerst nach der Stelle, wo der Bach zu Boden regnet, als wollte man ihn erst fühlen, bevor man ihn ruhig betrachtet. Es ist ein Kessel, wo die Schaulustigen zu stehen pflegen. Man erklettert den Hügel von Felstrümmern, den sich der Bach links von seinem Niederstürze gebildet hat, und schaut hinab in ein weites Becken, das unablässig von tausendfachem Schaumgekräusel wimmelt. Auch jenseits liegen Schutthaufen, die von Oben heruntergeworfen wurden, -- und zwischen diesen beiden Bollwerken rieselt in freiem Durchgang der gesammelte Bach da¬ von. Unverkennbar rührt die Tiefe seines Beckens und diese Oeff¬
Der Waſſerfall.
zartes Geräuſch, das nicht von einer einzelnen Stelle herkommt, ſondern den Zuſchauer allenthalben wie Geiſterſtimmen zu umgeben ſcheint. Hieraus ergiebt ſich, was Künſtler gegen dieſe Naturſchön¬ heit einwenden; der gerade Fall bietet ihnen zu wenig Anhalte¬ punkte für maleriſche Unterbrechungen, — die Weichheit in der ſucceſſiven Bewegung der Maſſen verwandelt ſich auf der Leinwand in ſteifen Stillſtand, und weder das Glanzlicht des Waſſers noch die Zauberſchimmer der Regenbogen laſſen ſich im Gemälde ſo wiedergeben, daß ſie äſthetiſch ſchön und durchſichtig erſcheinen.
Die erſte Bedingung zum Vollgenuß ſeiner Schönheit iſt Sonnenglanz; dieſer währt an den längſten Sommertagen von un¬ gefähr 7 Uhr Morgens bis Mittags, weil er von demjenigen Berge ſelbſt dem Bach entzogen wird, über deſſen unterſte Stufen er ſich hinabwirft. Nicht nur die Regenbogen im Keſſel, wo die zerſtobenen Waſſer ſich ſammeln, — auch die fliegenden Waſſer¬ flocken in der Luft bedürfen des Sonnenſcheines. Jedes Stäub¬ chen wird bemerkbar durch ſeine Vermittelung, und der Inhalt der Nebelſäule ſcheint doppelt ſo groß, wenn die Gunſt der Tages¬ königin ihr unverkümmert ſtrahlt. Zugleich ergötzt in hohem Grade der Schatten des Baches an der Felswand; er ſcheint ein zweites, ſtygiſch-geſchwärztes, mit wetteifernder Schnelle herabſchwebendes Gewäſſer zu ſein.
Man ſchreitet gewöhnlich zuerſt nach der Stelle, wo der Bach zu Boden regnet, als wollte man ihn erſt fühlen, bevor man ihn ruhig betrachtet. Es iſt ein Keſſel, wo die Schauluſtigen zu ſtehen pflegen. Man erklettert den Hügel von Felstrümmern, den ſich der Bach links von ſeinem Niederſtürze gebildet hat, und ſchaut hinab in ein weites Becken, das unabläſſig von tauſendfachem Schaumgekräuſel wimmelt. Auch jenſeits liegen Schutthaufen, die von Oben heruntergeworfen wurden, — und zwiſchen dieſen beiden Bollwerken rieſelt in freiem Durchgang der geſammelte Bach da¬ von. Unverkennbar rührt die Tiefe ſeines Beckens und dieſe Oeff¬
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Der Waſſerfall.
zartes Geräuſch, das nicht von einer einzelnen Stelle herkommt,
ſondern den Zuſchauer allenthalben wie Geiſterſtimmen zu umgeben
ſcheint. Hieraus ergiebt ſich, was Künſtler gegen dieſe Naturſchön¬
heit einwenden; der gerade Fall bietet ihnen zu wenig Anhalte¬
punkte für maleriſche Unterbrechungen, — die Weichheit in der
ſucceſſiven Bewegung der Maſſen verwandelt ſich auf der Leinwand
in ſteifen Stillſtand, und weder das Glanzlicht des Waſſers noch
die Zauberſchimmer der Regenbogen laſſen ſich im Gemälde ſo
wiedergeben, daß ſie äſthetiſch ſchön und durchſichtig erſcheinen.
Die erſte Bedingung zum Vollgenuß ſeiner Schönheit iſt
Sonnenglanz; dieſer währt an den längſten Sommertagen von un¬
gefähr 7 Uhr Morgens bis Mittags, weil er von demjenigen
Berge ſelbſt dem Bach entzogen wird, über deſſen unterſte Stufen
er ſich hinabwirft. Nicht nur die Regenbogen im Keſſel, wo die
zerſtobenen Waſſer ſich ſammeln, — auch die fliegenden Waſſer¬
flocken in der Luft bedürfen des Sonnenſcheines. Jedes Stäub¬
chen wird bemerkbar durch ſeine Vermittelung, und der Inhalt der
Nebelſäule ſcheint doppelt ſo groß, wenn die Gunſt der Tages¬
königin ihr unverkümmert ſtrahlt. Zugleich ergötzt in hohem Grade
der Schatten des Baches an der Felswand; er ſcheint ein zweites,
ſtygiſch-geſchwärztes, mit wetteifernder Schnelle herabſchwebendes
Gewäſſer zu ſein.
Man ſchreitet gewöhnlich zuerſt nach der Stelle, wo der Bach
zu Boden regnet, als wollte man ihn erſt fühlen, bevor man ihn
ruhig betrachtet. Es iſt ein Keſſel, wo die Schauluſtigen zu ſtehen
pflegen. Man erklettert den Hügel von Felstrümmern, den ſich
der Bach links von ſeinem Niederſtürze gebildet hat, und ſchaut
hinab in ein weites Becken, das unabläſſig von tauſendfachem
Schaumgekräuſel wimmelt. Auch jenſeits liegen Schutthaufen, die
von Oben heruntergeworfen wurden, — und zwiſchen dieſen beiden
Bollwerken rieſelt in freiem Durchgang der geſammelte Bach da¬
von. Unverkennbar rührt die Tiefe ſeines Beckens und dieſe Oeff¬
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/178>, abgerufen am 16.02.2025.
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