Noch gestern unter Schnee und kahlen Tannen! Heut bei Oliven und Orangenbäumen! Ich sah mein Glück und mein' es nur zu träumen, Und das Geträumte liebend zu umspannen.
J. G. Müller.
Italien ist das Land der Sehnsucht, der Jugendträume und lieblichsten Ideale. Jeder Gymnasiast, wenn er mit voller Lust sei¬ nen Virgil, Horaz, Ovid oder Tibull durchschwelgt, macht einen Gedankensprung nach Süden ins klassische Römerland und freut sich der Stunde, wo er seinen Lieblingsdichtern auf Schritt und Tritt nachwandeln kann. Wird dann in späteren Jahren endlich der langgenährte Wunsch befriedigt, eilt der beflügelte Schritt zum Römerzug über die Alpen hinab in die lombardische Ebene, hat der Verlangende den Sabinischen Himmel über sich erblauen sehen, in den Grotten und an den Kaskadellen Tivolis das ewig nach¬ klingende "Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet" -- sinnend wiederholt, dann begegnet es wohl, daß er etwas kühler gestimmt zurückkehrt.
Woher diese bei italienischen Reisen oft wiederkehrende Er¬ scheinung? -- diese vermeintliche Enttäuschung? --
Ein Umstand ists, der manche Erwartung überspannt und zu¬ gleich die späteren Effekte merklich abschwächt; -- das ist die Intro¬ duktion zur italienischen Reise, es ist der erste Tag jenseit der
Südliche Alpenthäler.
Noch geſtern unter Schnee und kahlen Tannen! Heut bei Oliven und Orangenbäumen! Ich ſah mein Glück und mein' es nur zu träumen, Und das Geträumte liebend zu umſpannen.
J. G. Müller.
Italien iſt das Land der Sehnſucht, der Jugendträume und lieblichſten Ideale. Jeder Gymnaſiaſt, wenn er mit voller Luſt ſei¬ nen Virgil, Horaz, Ovid oder Tibull durchſchwelgt, macht einen Gedankenſprung nach Süden ins klaſſiſche Römerland und freut ſich der Stunde, wo er ſeinen Lieblingsdichtern auf Schritt und Tritt nachwandeln kann. Wird dann in ſpäteren Jahren endlich der langgenährte Wunſch befriedigt, eilt der beflügelte Schritt zum Römerzug über die Alpen hinab in die lombardiſche Ebene, hat der Verlangende den Sabiniſchen Himmel über ſich erblauen ſehen, in den Grotten und an den Kaskadellen Tivolis das ewig nach¬ klingende „Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet“ — ſinnend wiederholt, dann begegnet es wohl, daß er etwas kühler geſtimmt zurückkehrt.
Woher dieſe bei italieniſchen Reiſen oft wiederkehrende Er¬ ſcheinung? — dieſe vermeintliche Enttäuſchung? —
Ein Umſtand iſts, der manche Erwartung überſpannt und zu¬ gleich die ſpäteren Effekte merklich abſchwächt; — das iſt die Intro¬ duktion zur italieniſchen Reiſe, es iſt der erſte Tag jenſeit der
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Südliche Alpenthäler.
Noch geſtern unter Schnee und kahlen Tannen!
Heut bei Oliven und Orangenbäumen!
Ich ſah mein Glück und mein' es nur zu träumen,
Und das Geträumte liebend zu umſpannen.
J. G. Müller.
Italien iſt das Land der Sehnſucht, der Jugendträume und
lieblichſten Ideale. Jeder Gymnaſiaſt, wenn er mit voller Luſt ſei¬
nen Virgil, Horaz, Ovid oder Tibull durchſchwelgt, macht einen
Gedankenſprung nach Süden ins klaſſiſche Römerland und freut
ſich der Stunde, wo er ſeinen Lieblingsdichtern auf Schritt und
Tritt nachwandeln kann. Wird dann in ſpäteren Jahren endlich
der langgenährte Wunſch befriedigt, eilt der beflügelte Schritt zum
Römerzug über die Alpen hinab in die lombardiſche Ebene, hat
der Verlangende den Sabiniſchen Himmel über ſich erblauen ſehen,
in den Grotten und an den Kaskadellen Tivolis das ewig nach¬
klingende „Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet“ —
ſinnend wiederholt, dann begegnet es wohl, daß er etwas kühler
geſtimmt zurückkehrt.
Woher dieſe bei italieniſchen Reiſen oft wiederkehrende Er¬
ſcheinung? — dieſe vermeintliche Enttäuſchung? —
Ein Umſtand iſts, der manche Erwartung überſpannt und zu¬
gleich die ſpäteren Effekte merklich abſchwächt; — das iſt die Intro¬
duktion zur italieniſchen Reiſe, es iſt der erſte Tag jenſeit der
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. [105]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/131>, abgerufen am 22.11.2024.
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